A. Einführung
Zu den ersten Aufgaben eines jeden Referendars zählt das Verfassen von Urteilen und das Erlernen des dafür notwendigen Urteilstils. Beides ist unerlässlich, um die Zivilstation zu meistern und um sich auf kommende Urteilsklausuren vorzubereiten. Möglichst frühzeitig sollte auch die Anfertigung zivilrechtlicher Anwaltsklausuren eingeübt werden, da deren Bedeutung im zweiten Staatsexamen stark zugenommen hat.1
Mit ein wenig Vorbereitung lassen sich hier durchaus ordentliche Ergebnisse erzielen. Anwaltsklausuren ähneln den Zivilrechtsklausuren im ersten Staatsexamen, und zwar insofern, als auch hier ein rechtliches Gutachten über das Bestehen eines oder mehrerer Ansprüche anzufertigen ist. Ungeachtet dessen sind zahlreiche Besonderheiten zu beachten, die an dieser Stelle überblickartig behandelt werden.2
Jedes Aktenstück einer Anwaltsklausur beginnt mit einem Aktenvermerk, in dem der Anwalt – in dessen Rolle Sie als Bearbeiter schlüpfen – ein Gespräch mit dem ratsuchenden Mandanten protokolliert hat. Inhaltlich sind sodann verschiedene Erscheinungsformen der Anwaltsklausur zu unterscheiden.
Am häufigsten werden Sie aus Sicht des Anwalts eines potentiellen Klägers oder eines Beklagten die Erfolgsaussichten einer Klage oder einer Klageerwiderung zu prüfen haben, weswegen hier schwerpunktmäßig auf diese beiden Typen eingegangen wird. Daneben sind Klausuren aus dem einstweiligen Rechtsschutzverfahren (Antrag auf einstweilige Verfügung oder Arrestbefehl bzw. Einlegung eines Widerspruchs), dem Berufungsverfahren (Einlegung einer Berufung oder Berufungserwiderung) oder dem Zwangsvollstreckungsverfahren möglich.
Vermehrt müssen sich Referendare auch auf die Anfertigung von rechtsgestaltenden Klausuren (Kautelarklausur) einstellen, bei denen nach Anfertigung eines Gutachtens ein Vertragsentwurf zu erstellen ist.3
Nach einigen allgemeinen Hinweisen sollen anhand zweier Beispielsfälle die Grundzüge zur Erstellung einer Anwaltsklausur aus Klägersicht und aus Beklagtensicht erläutert werden.
B. Allgemeine Hinweise zur Anfertigung einer Anwaltsklausur
I. Grundlegender Aufbau
Unabhängig davon, welcher Klausurtyp Sie erwartet, empfiehlt sich bei allen Spielarten das Einhalten des folgenden Grobschemas:
• Mandantenbegehren
• Rechtsgutachten
• Zweckmäßigkeitserwägungen (Prozesstaktik)
• PraktischerTeil (Anfertigung eines Schriftsatzentwurfes)
Zu Beginn fast jeder Klausur gilt es das Begehren des Mandanten festzustellen.4 Oftmals enthält der Anwaltsvermerk wichtige Hinweise, worauf es dem Mandanten besonders ankommt. Darauf aufbauend folgt das Gutachten, in dem der Sachverhalt unter materiell- und prozessrechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen ist.
Im Gegensatz zu einem stattgebenden Zivilurteil, bei dem Sie sich auf die Prüfung einer einzigen Anspruchsgrundlage beschränken dürfen, müssen Sie wie im ersten Examen auf sämtliche in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen eingehen.5 Anschließend sind Zweckmäßigkeitserwägungen anzustellen, d.h. prozesstaktische Überlegungen, auf welche Art und Weise dem Mandanten am besten geholfen werden kann. Den Abschluss bildet der praktische Teil.
Je nach Klausurtyp werden Sie einen Schriftsatzentwurf anzufertigen haben, z.B. eine Klageschrift, eine Klageerwiderung oder auch nur ein Mandantenanschreiben, etwa wenn ein gerichtliches Vorgehen nicht sinnvoll erscheint.
II. Formalien
1. Einschichtiger oder zweischichtiger Gutachtenaufbau
Das Gutachten kann auf zwei verschiedene Arten aufgebaut werden, und zwar einschichtig oder zweischichtig. Der zweischichtige Aufbau gleicht einem Relationsgutachten und untergliedert sich in eine Klägerstation, eine Beklagtenstation und einer Beweisstation.6 In der Klägerstation werden die Behauptungen des Klägers als wahr unterstellt und unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt geprüft. Es wird also untersucht, ob die vom Kläger vorgetragenen Tatsachen den Tatbestand einer Norm ausfüllen, oder mit anderen Worten, ob der Klägervortrag schlüssig ist.
Sodann ist in der Beklagtenstation der Vortrag des Beklagten als wahr zu unterstellen und erneut umfassend zu prüfen. Kommt man zum Ergebnis, dass der Anspruch des Klägers durch den abweichenden Tatsachenvortrag zu Fall gebracht wird, spricht man von einem erheblichen Beklagtenvorbringen, andernfalls von einem unerheblichen. Nur wenn das Klägervorbringen schlüssig und das Beklagtenvorbringen erheblich ist, muss letztlich in der Beweisstation eine Beweisprognose angestellt werden, in welcher zu ermitteln ist, welchem Parteivortrag aller Wahrscheinlichkeit nach Glauben zu schenken sein wird.
Beim einschichtigen Aufbau entfällt die Aufteilung in einzelne Stationen. Es ist lediglich ein durchgängiges Gutachten anzufertigen. Sie prüfen in einem Schritt, ob Ansprüche des Anspruchstellers schlüssig vorgetragen werden können und ob der Anspruchsgegner Einwendungen hiergegen erheben kann. Sofern Teile des Parteivortrags zwischen den Parteien streitig sind, müssen Sie relevante Beweisfragen im Gutachten unter dem jeweiligen Tatbestandsmerkmal diskutieren.
Für welchen Aufbau Sie sich entscheiden, wird Ihnen von den Prüfungsämtern – soweit ersichtlich – freigestellt.7 Unserer Ansicht nach hat sich der einschichtige Aufbau wegen seiner Einfachheit und der damit einhergehenden besseren Handhabbarkeit bewehrt. Die nachfolgende Darstellung beschränkt sich daher auf den einschichtigen Aufbau.8
2. Kombination aus Gutachten- und Urteilsstil
Referendare, die denken, sie könnten den Gutachtenstil nach dem ersten Staatsexamen für immer ad acta legen, müssen wir leider enttäuschen. Ihre Aufgabe als „Rechtsanwalt“ ist es, die Erfolgsaussichten eines ggf. geltend zu machenden Anspruchs (Klägersicht) oder eines bereits geltend gemachten Anspruchs (Beklagtensicht) zu prüfen.
Das Ergebnis ist also – anders als beim Urteil – noch offen, so dass Sie das Gutachten grundsätzlich im Gutachtenstil abfassen sollen. Nur unproblematische Tatbestandsmerkmale dürfen und sollten möglichst knapp im Urteilsstil abgehandelt werden, nicht dagegen die problematischen. Denn noch wichtiger als im ersten Examen ist es Schwerpunkte zu setzen. Sie müssen dem Korrektor zeigen, dass Sie Wichtiges von Unwichtigem trennen und somit praxisgerecht und effizient arbeiten können (Praxisexamen!).
III. Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung
Achten Sie bei der Anfertigung des Gutachtens darauf, sich nach der höchstrichterlichen Rechtssprechung zu richten. Auch wenn Sie die Rechtsprechung des BGH nicht teilen, ist dem Mandanten wenig geholfen, wenn Sie wegen der Favorisierung einer Minder- oder Literaturmeinung damit rechnen müssen, gleich in erster Instanz zu unterliegen. Sollte es Ihnen nur so möglich sein, einen Anspruch zu begründen, können Sie formulieren, dass aus „anwaltlicher Vorsicht von der Geltendmachung des begehrten Anspruchs abzuraten ist.“
C. Anwaltsklausur aus Klägersicht
Bei der Anwaltsklausur aus Klägersicht ist es Ihre Aufgabe, herauszuarbeiten, ob und in welcher Höhe die durch Ihren Mandanten begehrten Ansprüche bestehen und ein (gerichtliches) Vorgehen gegen den Anspruchsgegner sinnvoll ist. Zur besseren Veranschaulichung soll zunächst ein Beispielsfall in Form einer Musterakte skizziert werden.
I. Musterakte
Seite 1 Rechtsanwalt Advomann
Gerichtsstr. 5, 28195 Bremen
Neues Mandat eintragen:
Max Sunlover, Gerichtsstr. 4, 28195 Bremen
Vermerk
Zum vereinbarten Gesprächstermin erschien Herr Max Sunlover und schilderte folgenden Sachverhalt:
Vor zwei Wochen, am 13.07.2013, habe ich das Sonnenstudio „Sunstroke“, Gerichtsstr. 3, 28195 Bremen, besucht und mir hier- bei einige erhebliche Schäden zugezogen. Ich bin zwanzig Minuten vor Ladenschluss hineingegangen, wollte aber noch schnell meine Kellerbräune auffrischen.
Ich legte mich unter das Solarium, schlief unglücklicherweise aber ein. Als ich aufwachte und den Laden verlassen wollte, stellte ich fest, dass die Eingangstür mittels eines automatischen und nicht hörbaren Mechanismus abgeschlossen worden war. Leider gab es im Sonnenstudio kein Telefon und mein Handy hatte ich auch nicht dabei, so dass ich keine Hilfe rufen konnte.
Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als die Tür aufzubrechen. Mir gelang es erst nach mehrmaligem Zutreten, die Tür zu zerstören. Hierbei brach ich mir das Bein. Mein Arzt sagt, dass der Bruch sehr kompliziert sei. Es hat ja auch ganz schön wehgetan. Jedenfalls sei es sehr wahrscheinlich, dass auch in Zukunft weitere Operationen notwendig sein werden.
Die Polizei hat den Sachverhalt später aufgenommen und festgestellt, dass die Tür tatsächlich abgeschlossen war, als ich die Tür eintrat und ich auch nicht anders hätte entkommen können. Die Polizeibeamten Handschell und Knüppel aus Bremen werden das sicher bezeugen.
Ich bin der Ansicht, dass ein Mitarbeiter des Solariumsbetriebs hätte gucken müssen, ob sich noch jemand im Laden befindet. Es gab auch keine Durchsage oder ähnliches, dass alle Türen verschlossen werden würden.
Ich habe das Sonnenstudio angeschrieben und um Übernahme der Arztkosten i.H.v. 2.500,- € gebeten. Ich verfüge derzeit über keine Krankenversicherung und habe die Arztrechnung bereits beglichen Der Betreiber will aber nicht zahlen. Mir wurde sogar gedroht, dass man die Kosten für die kaputte Tür geltend machen werde, wenn ich nicht endlich Ruhe geben würde. Das sehe ich nicht ein. Ich möchte, dass Sie es denen mal richtig zeigen und alles für mich rausholen, was möglich ist.
Advomann Rechtsanwalt
Überreichte Unterlagen:
1. Medizinisches Gutachten,
2. Schreiben an das Solarium „Sunstroke“,
3. Antwort an das Solarium „Sunstroke“,
4. Quittung über die Arztrechnung,
5. Vollmacht;
Seite 2 (Medizinisches Gutachten), Seite 3 (Schreiben des Arbeitgebers) u. Seite 4 (Schreiben an das Sonnenstudio „Sunstroke“)
Hinweis: Das Medizinische Gutachten und das Schreiben seines Arbeitgebers bestätigen den Vortrag des Mandanten. In dem Anschreiben an das Sonnenstudio gibt der Mandant den vorgetragenen Sachverhalt wieder und macht die Erstattung der Arztkosten geltend.
Seite 5 Sunstroke GmbH
Gerichtsstr. 3, 28195 Bremen
Sehr geehrter Herr Sunlover,
leider können wir Ihrem Anliegen auf Erstattung der Arztkosten nicht entsprechen. Unser Hausmeister Herr Willi schaut vor Geschäftsschluss immer in alle Räume, um sicherzustellen, dass niemand eingeschlossen wird. Leider ist er gestern verstorben, weswegen wir ihn nicht mehr fragen können.
Jedenfalls sind Sie an Ihren Verletzungen selbst Schuld. Daher raten wir Ihnen vor weiteren Schritten abzusehen. Hilfsweise müssen wir Ihnen die kaputte Tür in Rechnung stellen. Diese hatte einen Wert von 1.500,- €.
Mit freundlichen Grüßen
Manfred Blackburn Geschäftsführer
Bearbeitervermerk: Prüfen Sie auf Grundlage der Unterlagen die Erfolgsaussichten einer Klage und stellen Sie auch prozesstaktische Erwägungen an. Bei positiven Erfolgsaussichten ist ein Klageentwurf anzufertigen, andernfalls ein Mandantenanschreiben, indem Sie dem Mandanten mitteilen, warum die gerichtliche Geltendmachung seiner Ansprüche nicht erfolgversprechend ist.
II. Mandantenbegehren
Das Begehren des Mandanten ergibt sich meist eindeutig aus dessen Sachvortrag und dem Bearbeitervermerk. Halten Sie nur kurz fest, worum es dem Mandanten geht („Der Mandant verlangt von der Sunstroke GmbH (nachfolgend „B“) vorrangig die Erstattung seiner Arztkosten in Form von Schadensersatz“ etc.). Nur in Ausnahmefälle müssen Sie das Begehren näher konkretisieren, etwa wenn der Mandant sich angesichts des Umfangs des Anspruchs unklar ausdrückt.
Im Beispielsfall hat der Mandant (nachfolgend „S“) angegeben, dass der Anwalt für ihn alle erdenklichen Ansprüche geltend machen soll. Daher können Sie folgendermaßen fortfahren: „Darüber hinaus könnten ihm ein Anspruch auf Schmerzensgeld sowie ein Ausgleich zukünftiger Schäden zustehen.“
III. Gutachten
Das Gutachten sollte sich an dem Mandantenbegehren orientieren. Bei der Anwaltsklausur aus Klägersicht empfiehlt es sich – im Gegensatz zur Klausur aus Beklagtensicht – zunächst mit der Prüfung der materiellen Rechtslage zu beginnen und Zulässigkeitsprobleme sodann am Ende des Gutachtens und in den Zweckmäßigkeitserwägungen zu erörtern. Dieses Vorgehen orientiert sich an der Arbeitsweise des Rechtsanwalts. Dieser prüft zunächst, ob überhaupt Ansprüche bestehen, bevor er über prozessuale Aspekte nachdenkt, beispielsweise welches Gericht zuständig ist.
1. Prüfung aller in Betracht kommender Anspruchsgrundlagen
Beginnen Sie das Gutachten mit einem Einleitungssatz wie „Zu prüfen ist, ob Ansprüche des S schlüssig vorgetragen werden können und ob die B Einwendungen hiergegen vorbringen kann.“ Fahren Sie sodann fort wie Sie es aus dem ersten Examen gewohnt sind und beginnen Sie mit der Prüfung vertraglicher Ansprüche.
Im Beispielsfall könnte sich ein Anspruch auf die genannten Schadenspositionen aus den §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB i.V.m. mit dem Sonnenstudiovertrag ergeben. Sofern es B unterlassen hat, vor Ladenschluss zu kontrollieren, ob sich noch Kunden in den Geschäftsräumen aufhalten, liegt hierin die Verletzung einer Schutzpflicht i.S. des § 241 Abs. 2 BGB; genauer gesagt, B hat seine Verkehrssicherungspflicht missachtet (zur Beweisprognose s. unter. 2.).
Je nach Fall kann es auch vorkommen, dass sich zwar nicht der be- gehrte Anspruch des Mandanten begründen lässt, ihm dafür aber ein „Aliud“ i.S. des § 308 ZPO zusteht (Anspruch auf Schadenersatz statt auf Herausgabe einer Sache).9 Da Sie als Anwalt eine umfassende Beratungspflicht gegenüber dem Mandanten haben, müssen Sie auch alternativ in Betracht kommende Ansprüche prüfen.
Gleiches gilt, wenn der Mandant nur ein „Minus“ (z.B. Freistellung statt Zahlung) oder gar ein „Plus“, also mehr als er Ihnen gegenüber geäußert hat, geltend machen kann.
Kommen Sie zu dem Ergebnis, dass dem Mandanten zumindest ein Teil der begehrten Schadenspositionen zusteht, sind rechtshindernde (z.B. §§ 134, 138 BGB), rechtsvernichtende (z.B. §§ 119 ff. BGB) und/oder rechtshemmende Einwendungen (§§ 273, 320 BGB) des Anspruchgegners zu untersuchen.
Einwendungen können sich entweder aus dem Sachvortrag des Mandanten sowie dem abweichenden Sachvortrag des Gegners („Bestreiten“) ergeben oder aus abweichenden Rechtsansichten. Im Beispielsfall müsste geprüft werden, ob der Anspruch des S durch Aufrechnung nach § 387 BGB wegen der zerstörten Tür zumindest teilweise zum Erlöschen gebracht werden könnte.
Im Anschluss dürfen Sie nicht versäumen, auch gesetzliche Ansprüche – hier § 823 Abs. 1 BGB – zu prüfen.
Da Sie die relevanten Probleme des Falls schon unter dem vertraglichen Anspruch diskutiert haben werden, können Sie diese Prüfung natürlich in aller Kürze abhandeln. Relevant wird die Prüfung verschiedener Anspruchsgrundlagen insbesondere dann, wenn diese unterschiedliche Anspruchsvoraussetzungen haben. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn Ihnen für die Nachweis des Verschuldens bei der Prüfung eines deliktischen Anspruchs keine ausreichenden Beweismittel zur Verfügung stehen, Sie Ihr Begehren aber stattdessen auf eine bereicherungsrechtliche Anspruchsgrundlage stützen können.
Zum Schluss müssen Sie noch etwaige Zinsansprüche ansprechen, also Verzugszinsen nach §§ 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB oder Prozesszinsen nach §§ 291, 288 Abs. 1 BGB.
Bestimmte Zulässigkeitsprobleme sollten Sie bereits im Gutachten ansprechen, vorausgesetzt der Sachverhalt legt deren Prüfung nahe. Namentlich sind dies Fragen nach der entgegenstehenden Rechtskraft nach § 322 ZPO und der anderweitigen Rechtshängigkeit nach § 261 ZPO.
Andere Zulässigkeitsprobleme (z.B. Gerichtszuständigkeit, Streit- verkündung etc.) sprechen Sie in den Zweckmäßigkeitserwägungen an. Sinnvollerweise ist auf diese erst dort einzugehen, wenn sie zuvor herausgearbeitet haben, ob überhaupt Ansprüche bestehen und in welcher Weise diese gerichtlich geltend gemacht werden können.10
2. Integrierte Beweisprognose
Beim einschichtigen Aufbau sind beweisbedürftige Tatsachenfragen unter dem relevanten Tatbestandsmerkmal zu behandeln. Da noch kein gerichtliches Verfahren eingeleitet wurde, können Sie freilich noch keine abschließende Beweiswürdigung, sondern nur eine Beweisprognose vornehmen.
Diese gliedert sich in folgende Schritte:
• Beweislast (Welche Partei ist beweisbelastet?)
• Beweismittel (Welche Beweismittel stehen zur Verfügung?)
• Beweiswürdigung (Wem wird das Gericht vermutlich glauben?)
Klären Sie zunächst, welche Partei beweisbelastet ist und denken Sie an besondere Beweislastregeln- und –erleichterungen (vgl. §§ 280 Abs. 1 S. 2, 476, 891, 1006 BGB). Im nächsten Schritt stellen Sie fest, welche Beweismittel zur Verfügung stehen und ggf. ob deren Verwertung möglich ist (etwa bei heimlichen Tonbandaufnahmen). Mit der Eselsbrücke „SAPuz“ können Sie sich die zur Verfügung stehen Beweismittel einprägen11:
S = Sachverständigengutachten, §§ 402 ff. ZPO A = Augenschein, §§ 371 ff. ZPO
P = Parteivernehmung, §§ 447 f. ZPO
u = Urkunden, §§ 415 ff. ZPO
z = Zeugen, §§ 373 ff. ZPO
Nehmen Sie dann eine kurze Beweiswürdigung vor.12 Können sich bei- de Parteien hinsichtlich einer streitigen Tatsache auf unterschiedliche Beweismittel berufen, haben Sie eine antizipierte Beweiswürdigung durchzuführen und zu erläutern, welcher Seite sich das Gericht voraus- sichtlich anschließen wird.
Im Beispielsfall obliegt S im Rahmen des § 280 Abs. 1 BGB der Nachweis einer Pflichtverletzung, welche von B bestritten wird. S kann jedenfalls mithilfe der Polizisten als Zeugen beweisen, dass er eingeschlossen wurde und keine andere Möglichkeit hatte, sich zu befreien, als die Tür einzutreten. Damit ist es Sache der B, darzutun, dass sie ihrer Verkehrssicherungspflicht gleichwohl nachgekommen ist und alles Zumutbare getan hat. B hat lediglich behauptet, dass der Hausmeister immer vor Ladenschluss eine entsprechende Kontrolle durchführt.
Da der Hausmeister verstorben ist, wird sie diese Behauptung allerdings nicht mehr belegen können und beweisfällig bleiben. Das Verschulden wird nach § 280 Abs. 1 S. 2 BGB vermutet; einen Entlastungsbeweis wird B nicht führen können.
IV. Zweckmäßigkeitserwägungen
Vernachlässigen Sie keinesfalls die Zweckmäßigkeitserwägungen, da Sie hier anwaltliches Geschick unter Beweis stellen können. Sie haben zu erörtern, wie der Anwalt vorgehen sollte, um das Mandantenbegehren am effektivsten umzusetzen. Eine zentrale Rolle spielen dabei prozesstaktische Überlegungen und die sich daraus ergebende Zulässigkeitsprobleme und Kostenfragen.13
1. Allgemein
Ein starres Prüfungsschema der Zweckmäßigkeit existiert nicht. Zu behandelnde Punkte hängen vom konkreten Klausursachverhalt ab. Grob sollten Sie sich an fünf Punkten orientieren14:
1. Anwaltlicher Rat an den Mandanten
2. Bestimmung der Klägerpartei
3. Bestimmung des Klagegegners
4. Art und Weise der Klageerhebung
5. Gerichtszuständigkeit
Gelangen Sie zum Schluss, dass Ansprüche dargelegt und bewiesen werden können, halten Sie zunächst fest, dass dem Mandanten zur Einreichung einer Klage zu raten ist (1.). Beachten Sie dabei § 93 ZPO. Wurde der Klagegegner bislang noch nicht vergeblich zur Erfüllung des Anspruchs des Mandanten aufgefordert, besteht gem. § 93 ZPO die Gefahr, dass der Beklagte den Anspruch nach Rechtshängigkeit anerkennt und der Mandant unabhängig vom Ausgang des Rechtsstreits die Prozesskosten zu tragen hat.
Je nach Fall kann das Bedürfnis bestehen, die Klägerpartei näher zu konkretisieren (2.). Relevant werden können Fragen zur einfachen oder materiell notwendigen Streitgenossenschaft, zur Rechts- und Parteifähigkeit oder zur Prozessführungsbefugnis. Wechselseitig ist anschließend festzulegen, wer verklagt werden soll (3.). Neben den unter 2. genannten Punkten (diesmal in Bezug auf den Klagegegner), kann beispielsweise zu prüfen sein, ob einer dritten Partei der Streit zu verkünden ist (§§ 72 ff. ZPO).
Besondere Beachtung verdient Punkt 4. Machen Sie sich Gedanken, auf welcher Art und Weise im Sinne des Mandanten Klage zu erheben ist und inwieweit ein solches Vorgehen zulässig und sinnvoll ist. Vorausgesetzt der Sachverhalt gibt entsprechenden Anlass, können Sie z.B. folgende Aspekte untersuchen: Einleitung eines Mahnverfahrens; Klage im Wege des Urkundsprozess; Erhebung einer Feststellungsklage; Stellung eines unbezifferten Klageantrags; Durchführung eines selbstständigen Beweisverfahrens.15
Schließlich müssen Sie erörtern (5.), bei welchem Gericht Sie Klage einreichen müssen. Hier geht es insbesondere um die sachliche (§§ 23 ff., 71 ff. GVG) und die örtliche Zuständigkeit (§§ 12 ff. ZPO).
2. Zweckmäßigkeitserwägungen am Beispiel der Musterakte
Im Beispielsfall ist dem Mandanten zur Erhebung zur Klage zu raten, da die Erfolgsaussichten positiv sein dürften (1.). Auch wurde B erfolglos zur Schadensliquidation aufgefordert, so dass kein Kostenrisiko nach § 93 ZPO besteht. Die Konkretisierung der Klägerpartei und des Klagegegners bereiten hier keine Probleme und sind nicht gesondert zu er- wähnen (2. und 3.). Würde der Hausmeister noch leben, wäre darüber nachzudenken, ob ein Vorgehen auch gegen ihn (passive Streitgenossenschaft) nach § 823 BGB in Betracht käme.
Hinsichtlich der Art und Weise der Klageerhebung ist im Beispielsfall auf den Schmerzensgeldantrag und auf die Geltendmachung zukünftiger Schäden einzugehen. Ein Antrag auf Zahlung einer Geldsumme ist in der Klageschrift grds. genau zu beziffern (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Eine Ausnahme gilt bei Schmerzensgeldansprüchen nach § 253 Abs. 2 BGB. Sie können entweder eine exakte Summe angeben oder die Höhe in das Ermessen des Gerichts stellen (§ 287 ZPO), solange Sie die für die Bemessung des Schmerzensgeld notwendigen Tatsachen vortragen.
Zeigen Sie praktisches Verständnis und wägen Sie die Vor- und Nachteile der Alternativen ab. Vorteile einer genauen Bezifferung sind, dass dem Gericht eine klare Leitlinie vorgegeben wird und im Fall des Unterliegens eine konkrete Beschwer für die Berufung vorgetragen werden kann. Dagegen besteht bei einem bezifferten Antrag ein höheres Kostenrisiko, wenn ein geringerer Betrag zugesprochen wird, als beantragt.
Bei einem unbezifferten Antrag muss das Gericht nicht § 308 Abs. 1 ZPO beachten, d.h. es ist mangels eines konkreten Antrags nicht an eine begehrte Schadenssumme gebunden und kann dem Kläger ggf. mehr zu sprechen, als dieser beantragt hat. Zu empfehlen ist, die goldene Mitte zu wählen und einen unbezifferten Antrag, jedoch versehen mit einer sog. Begehrensvorstellung, zu stellen. Hierdurch können die Vorteile beider Antragsalternativen zulasten der jeweiligen Nachteile miteinander kombiniert werden.16
Der Mandant S hat ferner mitgeteilt, dass sein Arzt weitere Operationen in Zukunft für wahrscheinlich hält. Für die Klausurbearbeitung hat dies zur Konsequenz, dass dem Mandanten zu einer zusätzlichen Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO zu raten ist. Die Feststellung, dass zukünftig eintretende materielle und immaterielle Schäden, die sich auf das Schadensereignis zurückführen lassen, vom Klagegegner zu ersetzen sind, ist zweckmäßig, da dieser den Haftungsgrund anschließend nicht mehr angreifen kann.
Ferner wird durch ein Feststellungsurteil die mit Entstehung des Schadens beginnende Verjährung gehemmt (§ 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB).17 Gehen Sie abschließend noch auf die besondere Zulässigkeitsvoraussetzung einer Feststellungsklage, namentlich das Feststellungsinteresse ein. Dieses liegt bei der Möglichkeit eines zukünftigen Schadens – wie hier – unproblematisch vor.18
Die Anregung eines Mahnverfahrens nach §§ 688 ff. ZPO ist im Beispielsfall nicht sinnvoll und sollte gar nicht angesprochen werden. Da B bereits angekündigt hat, die Arztkosten nicht zu ersetzen, ist davon auszugehen, dass er einem Mahnbescheid widersprechen wird (§ 694 ZPO). Folge für S wäre eine Verzögerung des Verfahrens. Ein Mahnverfahren wäre dagegen sinnvoll, wenn die Verjährung eines Anspruchs droht. Diese kann durch die rechtzeitige Beantragung eines Mahnbe- scheids gehemmt werden (§ 204 Nr. 2 BGB, § 167 ZPO).
Letztlich ist auf die Gerichtszuständigkeit einzugehen (5.). Da der Streitwert über 5.000,- € liegen dürfte, ist nach §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG das Landgericht sachlich zuständig. Die örtliche Zuständigkeit des LG Bremen ergibt sich hier aus §§ 12, 17 ZPO.
V. Praktischer Teil – Entwurf der Klageschrift
Ihre letzte Aufgabe ist es, den Entwurf einer Klageschrift anzufertigen. Hier müssen Sie ggf. Besonderheiten beachten, z.B. bei einer Klage im Urkundsprozess, einem PKH-Antrag mit „bedingter“ Klageschrift oder einer Anspruchsbegründung nach Widerspruch gegen einen Mahnbescheid.19 Ausgehend von dem oben dargestellten Fall könnte der Klageentwurf wie folgt strukturiert werden:
D. Anwaltsklausur aus Beklagtensicht
Bei der Anwaltsklausur aus Beklagtensicht steht das Angriffsmittel gegen Ihren Mandanten in der Regel fest. Der Mandant wird Ihnen eine gegen ihn gerichtete Klage oder einen Mahnbescheid vorlegen und sich eine Beratung über die Erfolgsaussichten und die Art seiner Verteidigungsmöglichkeiten sowie eventueller Gegenangriffsmöglichkeiten wünschen.
I. Musterakte21
Seite 1
Rechtsanwalt Dr. V. Horst Asselstr. 5, 28199 Bremen
Neues Mandat eintragen:
Herr Ulfried Hohnes, Münchner Str. 13, 28215 Bremen
Vermerk:
Zum kurzfristig vereinbarten Termin erschien heute Herr Hohnes und schilderte folgenden Sachverhalt:
„Ich bin ausgebildeter Maurer. In diesem Beruf arbeite ich bereits seit über zehn Jahren in einer Baufirma in Bremen, die Bauvorhaben in ganz Deutschland realisiert. Nebenher erledige ich immer wieder kleine Aufträge ohne Rechnung. Im März 2012 habe ich die Einfahrt des Herrn Michael Fredde gepflastert.
Zusammen mit meinem Bekannten Max Mauschel habe ich für die Arbeit 800 Euro bekommen. Herr Fredde war mit der Arbeit sehr zufrieden und freute sich, so günstig weggekommen zu sein. Herr Fredde behauptet jetzt, er hätte darauf hingewiesen, dass der Weg besonders stabil sein müsse.
Das stimmt aber nicht. Hierfür bin ich gar nicht qualifiziert. Als Maurer bin ich nicht spezifisch ausgebildet, Wege zu pflastern. Ich kann nur eine ganz normale Pflasterung vornehmen. Dass Herr Fredde dazu nichts gesagt hat, kann Max auch bezeugen. Dessen Anschrift kann ich noch nachreichen.
Im Juni 2012 rief mich Herr Fredde an und beschwerte sich, dass sich bereits sehr deutliche Spurrillen gebildet hätten und der Weg kaum noch mit seinem Auto zu befahren sei. Er verlangte von mir, dass ich diesen Schaden behebe. Da ich zu dieser Zeit bei meiner Arbeit voll eingespannt war, hatte ich für die Reparatur keine Zeit und wies die Forderung ab. Außerdem bin ich der Meinung, dass Herr Fredde, der ja durch meine Schwarzarbeit eine Menge Geld gespart hat, von mir nicht verlangen kann, dass ich noch einmal erheblich Zeit zur Befes- tigung des Weges aufwende. Hätte er diese Sicherheit gewollt, hätte er ordnungsgemäß eine spezialisierte Firma beauftragen müssen. Dies sagte ich ihm auch.
Ich hörte danach nichts mehr von Herrn Fredde und dachte die Sache hätte sich erledigt. Als ich jedoch gestern aus Frankfurt, wo ich drei Wochen auf einer Baustelle gearbeitet hatte, wieder nach Hause kam, hatte ich Post vom Landgericht Bremen. Dabei handelte es sich um eine Klage des Herrn Fredde auf Schadenersatz in Höhe von 5.500 Euro. Wie sich aus der Klage ergibt, hat Herr Fredde den Weg nun von einer Firma reparieren lassen, die den gesamten Weg wieder abräumen, den Untergrund komplett neu befestigen und wieder pflastern mussten. Es kann doch nicht sein, dass ich diese Kosten nun ersetzen muss?
Was mir zusätzlich Sorgen bereitet ist, dass mir die Klage offenbar bereits nach meiner Abreise zugeschickt wurde, am 22.08.2013. In dem Begleitschreiben des Landegerichts zur Klage stand, dass ich zwei Wochen Zeit hätte, um anzuzeigen, ob ich mich gegen die Klage verteidigen möchte und weitere zwei Wochen um dies zu begründen. Wenn ich mich nicht melde, könne dann unmittelbar ein Versäumnisurteil gegen mich ergehen. Wie ist dies zu verstehen und muss ich jetzt deshalb zahlen, weil ich mich noch nicht gemeldet habe?“
Auf Nachfrage: „Nein, mein Bekannter war nicht bei allen Gesprächen mit Herrn Fredde anwesend. Aber er war bei allen Gesprächen dabei, in denen es um die Ausführung der Arbeiten und die Bezahlung ging. Er könnte deshalb auch bestätigen, dass ich die Arbeit auf Herrn Freddes Wunsch ohne Rechnung durchgeführt habe. Lediglich die erste Kontaktaufnahme zu Herrn Fredde habe ich alleine vorgenommen.“
Unterschrift, Bremen den 06.09.2013
Dr. Horst Rechtsanwalt
Hinweis: Die Anlagen enthalten den vorgetragenen Inhalt. In Anlage B1 heißt es ausdrücklich: „Der Untergrund des Weges ist zu weich, um dauerhaft durch schwere Pkw befahren zu werden. Ob die Schäden auch durch den Gebrauch von normalen Pkw aufgetreten wären, kann ohne weitere kostenverursachende Untersuchungen nicht beurteilt werden.“
Bearbeitervermerk: Prüfen Sie auf Grundlage der Unterlagen die Erfolgsaussichten einer Verteidigung des Mandanten. Stellen Sie hierbei auch prozesstaktische Erwägungen an. Fertigen Sie bei positiver Erfolgsaussicht einen Verteidigungsschriftsatz an das Gericht, andern- falls ein Mandantenschreiben, in dem die Gründe der fehlenden Erfolgsaussicht darzulegen sind.
II. Mandantenbegehren
Bei der Anwaltsklausur aus Beklagtensicht ergibt sich das Mandantenbegehren meist noch deutlicher als bei einer solchen aus Klägersicht; der Beklagte wird wissen wollen, ob er sich gegen die gegen seine Person erhobenen Ansprüche zur Wehr setzen kann. Achten Sie darauf, dass auch Fälle vorkommen können, in denen der Beklagte eigene Ansprüche vortragen kann. Der Mandant möchte dann regelmäßig auch die Durchsetzbarkeit dieser Ansprüche geprüft haben. Im vorliegenden Fall ließe sich das Begehren folgendermaßen zusammenfassen: „Der Mandant begehrt die Abwehr des gegen ihn geltend gemachten Schadensersatzanspruchs.“
III. Gutachten
Abweichend zur Klausur aus Klägersicht sollten Sie hier das Gutach- ten klassisch mit der Zulässigkeit der Klage beginnen. Es liegt bereits eine eingereichte Klage vor, die daraufhin untersucht werden kann. Da Sie eine umfassende Beratung des Mandanten schulden, müssen sie im Gutachten auch bei Unzulässigkeit der Klage gleichwohl die materielle Rechtslage prüfen.
1. Prüfung der Zulässigkeit
Die Prüfung ist weitgehend identisch zur Prüfung der Zulässigkeit im Rahmen einer Urteilsklausur. Es können alle möglichen Zulässigkeitsprobleme auftauchen. Angesprochen werden sollten jedoch nur die wirklich problematischen und diese auch nur in der gebotenen Kürze. Immer erwähnt werden sollte dagegen die Zuständigkeit des Gerichts. Nachdem der vorliegende Beispielfall keine Zulässigkeitsprobleme aufweist, reicht insofern der feststellende Satz: „Die Klage ist zulässig, insbesondere ist das Landgericht Bremen gemäß §§ 12, 13 ZPO örtlich und gemäß §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG sachlich zuständig.“
2. Prüfung der materiellen Rechtslage
Auch hier sind alle aufgrund des in der Klage vorgetragenen Sachverhalts in Frage kommenden Anspruchsgrundlagen zu prüfen. Denken Sie daran, dass die rechtliche Bewertung allein dem Gericht obliegt, welches nicht an die Vorstellung des Klägers gebunden ist. Anders als bei der Urteilsklausur reicht es deshalb auch nicht aus, wenn Sie einen erheblichen Einwand gegen den Anspruch des Klägers gefunden haben. Die anwaltliche Vorsicht gebietet es auf jede Entscheidung des Gerichts vorbereitet zu sein und deshalb auch jedes mögliche Verteidigungsmittel zu prüfen.
Im Beispielsfall könnte sich ein Anspruch des Klägers aus den Mängelgewährleistungsrechten des Werkvertrags ergeben. Es müsste also zunächst ein wirksamer Werkvertrag gemäß § 631 BGB vorliegen. Dies ist nach dem Klägervorbringen der Fall. Innerhalb dieses Prüfungspunktes müssen Sie jetzt die möglichen Einwendungen Ihres Mandanten beachten. Nach dessen Aussage verabredeten die Parteien die Arbeit ohne Rechnung zu vergüten, also „schwarz“.
Prüfen Sie nun, ob diese Erwiderung rechtliche Konsequenzen für den Anspruch des Klägers hat. Achtung: Zu diesem Themenkomplex hat der BGH seine Rechtsprechung geändert.22 War die „ohne-Rechnung-Abrede“ bereits bislang nach §§ 134, 138 BGB nichtig, führt sie nach der neuen Rechtsprechung in jedem Fall gemäß § 139 BGB zur Gesamtnichtigkeit des Vertrages. Insbesondere ist es dem Werkunternehmer nicht mehr nach Treu und Glauben gemäß § 242 BGB verwehrt, sich auch auf diese Nichtigkeit zu berufen.Das Vorbringen des Beklagten ist hiernach erheblich.
In der anschließenden Beweisprognose müssen Sie zunächst herausarbeiten, auf wessen Seite die Darlegungs- und Beweislast liegt. Vorliegend liegt die Beweislast des Vertragsschlusses als solchen bei dem Kläger. Der Vertragsschluss ist jedoch unstreitig. Die Beweislast für das Vorliegen des Nichtigkeitsgrundes, also der Abrede, die Arbeiten ohne Rechnung zu bewirken, liegt dagegen bei Ihrem Mandanten. Diese Tatsache trägt er vor und beruft sich auf die sich hieraus ergebende, für ihn positive Rechtsfolge. Der entsprechende Beweis kann hier durch die Zeugenaussage des Max Mauschel geführt werden.
Wie dargelegt dürfen Sie Prüfung aber nicht bereits an dieser Stelle abbrechen, sondern Sie müssen weiter prüfen, ob auch ein Mangel vorlag. Dies wäre der Fall, wenn eine besondere Beschaffenheitsvereinbarung getroffen worden wäre. Ihr Mandant bestreitet dies. Beide Parteien haben Beweis durch Zeugen angeboten. Da der Zeuge Ihres Mandanten nicht bei jedem Gespräch anwesend war, ist er insofern jedoch in der schlechteren Position.
Prüfen Sie nun, ob der Kläger Ansprüche aus anderen Anspruchsgrundlagen haben könnte, etwa aus § 823 Abs. 1 BGB. Dies ist nicht der Fall. Insofern reicht eine kurze Feststellung, da der Schwerpunkt ersichtlich auf der Prüfung des vertraglichen Anspruchs liegt. Zeigen Sie nur auf, dass Sie nichts übersehen oder aus Zeitdruck unterschlagen haben. Letztendlich müssten sie auch mögliche Gegenansprüche Ihres Mandanten prüfen. Solche sind vorliegend jedoch nicht ersichtlich.
3. Zweckmäßigkeitserwägungen
Die möglichen Erwägungen sind teilweise denen der Anwaltsklausur aus Klägersicht ähnlich.23 Nun müssen Sie sich keine Gedanken machen, ob alle Zulässigkeitsvoraussetzungen der Klage erfüllt sind, sondern wie Sie mit dem Fehlen einer solchen umgehen. Da die Zulässigkeit grundsätzlich das Gericht von Amts wegen prüft, rügen sie lediglich mögliche Verstöße.
Dies dient als Hinweis an das Gericht. Anders ist dies zum Beispiel bei der Zuständigkeit des Gerichts. Hier ist die Rüge zwingend, da eine anfängliche Unzuständigkeit gemäß § 39 ZPO durch rügeloses Einlassen überwunden werden kann. Gegebenfalls müssen Sie darlegen, wie Sie weiter vorgehen wollen, wenn die Klage ganz oder teilweise begründet ist (z.B. Anerkenntnis) oder Ihr Mandant eigene Ansprüche durch Aufrechnung oder Widerklage geltend machen könnte.
Im vorliegenden Fall spielen diese Punkte keine Rolle. Zulässigkeitsprobleme sind nicht ersichtlich; dagegen ist die Klage vollständig unbegründet. Es kommt allein ein Antrag auf Klageabweisung in Betracht. Dem Mandanten ist also zu raten, als Rechtsbehelf seine Verteidigung anzuzeigen (§ 276 Abs. 1 ZPO) und auf die Klage zu erwidern (§ 277 Abs. 1 ZPO).
Besonders zu beachten ist im Beispielsfall der Ablauf der Frist zur Verteidigungsanzeige. Viele Referendare denken in so einem Fall zu schnell an § 233 ZPO und einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand. Der Fristablauf ist jedoch unschädlich so lange kein Versäumnisurteil gegen den Beklagten ergangen ist. Gemäß § 331 Abs. 3 S. 1 ZPO reicht es aus, die Verteidigungsbereitschaft angezeigt wird, bevor das Versäumnisurteil bei der Geschäftsstelle des Gerichts eingeht.
Da die Frist vorliegend erst wenige Tage abgelaufen ist, sollten Sie Ihrem Mandanten empfehlen, die Verteidigungsanzeige zusammen mit der Klageerwiderung schnellstmöglich per Fax an die Geschäftsstelle zu schicken, um ein Versäumnisurteil zu verhindern. Der Prozess wird in diesem Fall regulär und ohne weitere Konsequenzen weitergeführt.24
IV. Praktischer Teil
von Dr. Dirk H. Veldhoff und Jakob Leßner, veröffentlicht in RefGuide 3. Auflage.
Fußnoten:
* Dr. Dirk H. Veldhoff ist als Richter in Bremen tätig, Jakob Leßner arbeitet als Rechtsanwalt in Bremen.
1 Das Gemeinsame Prüfungsamt der Länder Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein (GPA) stellt von insgesamt vier zivilrechtlichen Klausuren regelmäßig zwei Anwaltsklausuren.
2 Zur Vertiefung wird die Lektüre von Kaiser/Kaiser/Kaiser, Die Anwaltsklausur Zivilrecht,
4. Auflage, München 2012 oder Mürbe/Geiger/Haidl, Die Anwaltsklausur in der Assessorprüfung, 6. Auflage, München 2011 empfohlen.
3 Das GPA hat angekündigt, ab 2014 kautelarjuristische Klausuren zu stellen.
4 Hin und wieder ist vorab ein Sachbericht anzufertigen, der mit Ausnahme der Parteianträge dem Tatbestand eines Urteils gleicht. Sollte dies von Ihnen gefordert werden, wird man Sie hierauf im
Bearbeitervermerk am Ende der Klausur hinweisen.
5. Im Klartext bedeutet das, dass Sie z.B. nach der Prüfung eines vertraglichen Sekundäranspruchs nach § 280 BGB Ihre Prüfung nicht beenden dürfen, soweit alle Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, sondern Sie müssen im Anschluss alle anderen in Betracht kommenden gesetzlichen Anspruchs- grundlagen ebenfalls prüfen, etwa aus EBV, Deliktsrecht, GoA oder Bereicherungsrecht.
6. Vgl. den Aufsatz von Schröder zur Relationstechnik in dieser Ausgabe, S. 14 ff.
7. Sollte Ihr Prüfungsamt einen bestimmten Aufbau vorschreiben, sind Sie natürlich an diesen gebunden.
8 Anders Kaiser/Kaiser/Kaiser, Die Anwaltsklausur Zivilrecht, 4. Auflage, München 2012, Rn. 3, die den zweistufigen Aufbau wegen der – ihrer Ansicht nach – besseren Übersichtlichkeit leicht favorisieren. S. dort zum zweischichtigen Aufbau Rn. 4 ff.
9 Kaiser/Kaiser/Kaiser, Die Anwaltsklausur Zivilrecht, 4. Auflage, München 2012, Rn. 6.
10 Kaiser/Kaiser/Kaiser, ebenda.
11 Zu den einzelnen Beweismitteln vgl. Kaiser/Kaiser/Kaiser, Die Anwaltsklausur Zivilrecht, 4. Auflage, München 2012, Rn. 13; Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 11. Auflage, München 2013, S. 183 ff.
12 Zur Beweiswürdigung nebst Formulierungsbeispielen s. Kaiser/Kaiser/Kaiser, Die Zivilgerichtsklausur I, 5. Auflage, München 2012, S. 82 ff.
13 Kaiser/Kaiser/Kaiser, Die Anwaltsklausur Zivilrecht, 4. Auflage, München 2012, Rn. 14.
14 Vgl. im Detail Kaiser/Kaiser/Kaiser, Die Anwaltsklausur Zivilrecht, 4. Auflage, München 2012, Rn. 16 ff.
15 Kaiser/Kaiser/Kaiser, Die Anwaltsklausur Zivilrecht, 4. Auflage, München 2012, Rn. 24 ff.
16 Kaiser/Kaiser/Kaiser, Die Anwaltsklausur Zivilrecht, 4. Auflage, München 2012, Rn. 31.
17 Kaiser/Kaiser/Kaiser, Die Anwaltsklausur Zivilrecht, 4. Auflage, München 2012, Rn. 38.
18 Vgl. BGH NJW 2001, 1431 ff.
19 Vgl. hierzu die Darstellungen bei Kaiser/Kaiser/Kaiser, Die Anwaltsklausur Zivilrecht, 4. Auflage, München 2012, Rn. 47 ff.
20 Ob Sie im Klageentwurf den relevanten Sachverhalt und/oder Rechtsausführungen darstellen sollen, entnehmen Sie dem Bearbeitervermerk. Denkbar ist auch, dass nur die Anträge zu formulieren sind.
21 Nachempfunden BGH, Urt. 01.08.2013, Az. VII ZR 6/13.
22 Aufbereitung dieser neuen Rechtsprechung in Iurratio Heft 4/13.
23 Zu den übrigen Zweckmäßigkeitserwägungen siehe die ausführliche Übersicht bei Kaiser/Kaiser/Kaiser, Die Anwaltsklausur Zivilrecht, 4. Auflage, München 2012, Rn. 56 ff.
24 Auf diesen Punkt können Sie alternativ auch schon im Mandantenbegehren bzw. einer dort verorteten Rechtsbehelfsstation eingehen, so Kaiser/Kaiser/Kaiser, a.a.O. Rn. 50.
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