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Strafrecht: Ist hoheitliches Handeln rechtswidrig i.S.v. § 32 II StGB?

Bei Notwehrhandlungen gegenüber Amtsträgern gilt nach Auffassung des BGH ein spezifischer Rechtswidrigkeitsbegriff, wonach das Handeln eines Amtsträgers grundsätzlich rechtmäßig ist, wenn der Amtsträger örtlich und sachlich zuständig ist und die wesentlichen Förmlichkeiten beachtet.
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Gleichwohl sollte der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in derartigen Situationen besondere Beachtung finden.

BGH, Urteil v. 09.06.2015 – 1 StR 606/14 (NStZ 2015, 574)

Sachverhalt (verkürzt und abgewandelt)

Der aus Peru stammende Angeklagte Pedro Pechvogel (P) reiste zu Beginn des Jahres 2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die zuständige Ausländerbehörde ordnete zunächst seine Abschiebung für den 04.02.2014 an, gewährte ihm anschließend aber doch noch eine befristete Duldung bis zum 14.04.2014.

Eine Woche nach Ergehen dieser Duldungsverfügung beauftragte die Ausländerbehörde dennoch die zuständige Polizeidirektion damit, die zuvor angeordnete Abschiebung am 04.02.2014 durch Verbringung des P zum Flughafen zu vollziehen. Die Ausländerbehörde teilte der Polizei mit, dass der P über die Abschiebung informiert worden sei, was tatsächlich jedoch vergessen wurde.

Als die Polizeibeamten den P am 04.02.2014 von seiner Wohnung abholen wollten, reagierte P vollkommen überrascht und zeigte seine Duldungsverfügung vor. Gegen die Aufforderung der Polizeibeamten, gleichwohl mitkommen zu müssen, widersetzte sich P. Er ergriff ein Messer und versuchte damit, einen der Polizeibeamten zu stechen, indem er das Messer mehrmals in dessen Richtung stieß. Dies gelang ihm aufgrund der Hilfe des anderen Polizeibeamten jedoch nicht. Bei der Messerattacke nahm der P zumindest billigend in Kauf, einen der Polizeibeamten tödlich zu verletzen.

Strafbarkeit des P?

Einstieg

Problematisch an diesem Fall ist, ob der von P begangene versuchte Totschlag gemäß §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB zur Abwehr eines verwaltungsrechtlich unrechtmäßigen Eingriffs in die Rechte des P durch Notwehr nach § 32 StGB gerechtfertigt sein könnte.

Rechtsprechung

Der BGH hat das Vorliegen der Voraussetzungen der Notwehr im Ergebnis verneint. § 32 Abs. 2 StGB verlangt u.a. einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff. Hier hat sich P nach objektiver Betrachtung gegen einen gegenwärtigen Angriff auf seine Freiheit zur Wehr gesetzt.

Fraglich ist aber, ob dieser Angriff auch rechtswidrig, also im Wider- spruch zur Rechtsordnung, erfolgte. Die Ausländerbehörde hatte die Abschiebung des Angeklagten bis zum 14.04.2014 nach § 60a Auf- enthG ausgesetzt, so dass P nicht am 04.02.2014 hätte abgeschoben werden dürfen.

Die darauf gerichtete Zwangsmaßnahme ist insoweit materiell rechtswidrig. Zu beachten ist aber, dass die beiden eingeschalteten Polizeibeamten einen expliziten Auftrag der Ausländerbehörde erhielten, von dessen Rechtmäßigkeit sie überzeugt waren.

Der BGH ist in diesem Zusammenhang der Auffassung, dass für § 32 StGB wie bei § 113 Abs. 3 StGB ein spezifischer Rechtswidrigkeitsbegriff gelten müsse, der nicht an das materielle Verwaltungsrecht oder Verwaltungsvollstreckungsrecht gebunden sei.

Für die Rechtmäßigkeit des Handelns eines Polizeibeamten komme es allein darauf an, dass dieser örtlich und sachlich zuständig sei und dieser die wesentlichen Förmlichkeiten beachten würden.

Eine Rechtswidrigkeit seines Handelns ergebe sich erst dann, wenn er sich in einem schuldhaften Irrtum über die Erforderlichkeit der Amtsausübung befinde, wenn er willkürlich oder unter Missbrauch seines Amtes handele oder wenn das Verwaltungshandeln nichtig sei.

Dass diese Auslegung des Rechtswidrigkeitsbegriffs in § 32 StGB Amtsträger begünstigt, hält der BGH angesichts besonderer Situationen, in denen sich Vollzugsbeamte regelmäßig befänden, für sachgerecht.

Sie müssten sich unter einem gewissen zeitlichen Druck auf die Ermittlung eines äußeren Sachverhalts beschränken, ohne die Rechtmäßigkeit ihres Handelns bis in alle Einzelheiten klären zu können. Die restriktive Auslegung des Notwehrrechts gegenüber Amtsträgern sei zur Stabilisierung der staatlichen Ordnung geboten.

Der Betroffene werde auch nicht rechtlos gestellt, da er im Wege einer Feststellungsklage das Verwaltungshandeln juristisch überprüfen lassen könne. Schließlich seien Amtsträger auch stets zur Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verpflichtet. Nach Ansicht des BGH war der gegenwärtige Angriff auf den P nicht rechtswidrig und P hat sich wegen versuchten Totschlags strafbar gemacht.

Bewertung

Der sog. „strafrechtliche Rechtmäßigkeitsbegriff “ ist keinesfalls unumstritten. In der Literatur wird zum Teil eine Privilegierung staatlichen Handelns abgelehnt (zum Streitstand s. Engländer, NStZ 2015, 577 ff.).

Tatsächlich mag es für den Betroffenen mitunter schwer nachvollziehbar sein, warum er einen staatlichen – vermeintlich rechtswidrigen – Angriff zunächst hinnehmen muss und auf die Möglichkeit nachträglichen Rechtsschutz vertröstet wird (vgl. Groß, jurisPR-StrafR 21/2015, Nr. 2).

Dessen ungeachtet ist es für die Funktionsfähigkeit des Staates zwingend erforderlich, dass Vollstreckungsbeamte auch in unübersichtlichen Situationen und unter zeitlichem Druck schnelle Entscheidung treffen können, ohne die materiellen Voraussetzungen einer Maßnahme eingehend zu prüfen (BGHSt 4, 161, 164; 23, 334, 365 f.; zur Vertiefung hinsichtlich der Frage, ob eine Notwehrlage bei Ablehnung des strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs vorgelegen hätte, Engländer, NStZ 2015, 577, 578 f.)).

Gleichwohl sollte der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in derartigen Situationen besondere Beachtung finden. Im Zusammenhang mit dem oben dargestellten Sachverhalt wäre etwa danach zu fragen, ob es den Polizeibeamten nach Vorlage der Duldungsverfügung nicht möglich gewesen wäre, mit der Ausländerbehörde hinsichtlich der sich widersprechenden Duldungs- und Abschiebungsverfügung telefonisch Rücksprache zu halten.

Merke

Bei Notwehrhandlungen gegenüber Amtsträgern gilt nach Auffassung des BGH ein spezifischer Rechtswidrigkeitsbegriff, wonach das Handeln eines Amtsträgers grundsätzlich rechtmäßig ist (auch bei materieller Rechtswidrigkeit des Verwaltungshandelns), wenn der Amtsträger örtlich und sachlich zuständig ist und die wesentlichen Förmlichkeiten beachtet.

Wer also einen Amtsträger in einem solchen Fall in seinen Rechtsgütern verletzt, um sich gegen dessen dienstliches Handeln zu wehren, ist in diesem Fall nicht nach § 32 StGB gerechtfertigt.

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