A. Einführung
Der Rücktritt vom Versuch zählt zu den problemträchtigsten Themenkomplexen des Allgemeinen Teils. Dabei kommt der Auslegung des § 24 StGB[2] erhebliche praktische Bedeutung zu, da sie in zahlreichen Konstellationen über die Strafbarkeit oder gänzliche Straflosigkeit eines bestimmten Verhaltens entscheidet.
Zusätzliche Schwierigkeiten begegnen in diesem Zusammenhang, wenn der Rücktritt vom Versuch eines unechten Unterlassungsdeliktes zu prüfen ist und sich die Frage stellt, ob auf diesen die beim Begehungsdelikt weitgehend anerkannte Differenzierung zwischen unbeendeten und beendeten Versuchen zu übertragen ist.
Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden die beim Unterlassungsversuch geltenden Rücktrittsanforderungen herausgearbeitet und insbesondere die Kontroverse um die Differenzierung mehrerer Versuchsstadien näher beleuchtet werden, wobei der in § 24 Abs. 1 normierte Rücktritt des Einzeltäters im Vordergrund der Betrachtung steht.
B. Vorbemerkung: Unmittelbares Ansetzen
Bevor die Rücktrittsanforderungen beim Unterlassungsversuch Dargestellt werden, ist zunächst festzustellen, wann der Täter beim Unterlassungsdelikt ins Versuchsstadium eintritt, er also nach seiner Vorstellung von der Tat unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt i.S.v. § 22.
Während insoweit teilweise das Verstreichen lassen der ersten[3] letzten[4] oder erfolgsversprechendsten[5] Rettungschance für entscheidend gehalten wird, dürfte es dem Kriterium der Unmittelbarkeit am ehesten entsprechen, mit der vorherrschenden Auffassung auf denjenigen Zeitpunkt abzustellen, ab dem die Untätigkeit des Täters eine Verletzung seiner Garantenpflicht begründet[6].
Hiernach liegt ein unmittelbares Ansetzen vor, wenn nach der Vorstellung des Garanten bei weiterem Untätig bleiben eine konkrete Gefahr entsteht, oder wenn der Garant bei akuter Gefahrlage die Möglichkeit des Eingreifens aus der Hand gibt.[7] Als Beispiel mag ein Vater dienen, dessen vierjähriges Kind an Diabetes leidet und das der Vater daher dreimal täglich mit Insulin versorgt.
Stellt der Vater die Insulingabe mit Tötungsvorsatz ein, setzt er unmittelbar zur Verwirklichung eines Tötungsdeliktes an, wenn er auch in dem Moment untätig bleibt, in dem nach seiner Vorstellung die Gefahr für das Leben seines Kindes in ein konkretes Stadium tritt, sich also jederzeit zu realisieren droht.
Ferner liegt ein unmittelbares Ansetzen auch dann vor, wenn sich der Zustand des Kindes bereits verschlechtert hat und sich der Vater durch die Entfernung vom Aufenthaltsort des Kindes der Möglichkeit begibt, rechtzeitig rettend einzugreifen.
C. Der Rücktritt vom Versuch des unechten Unterlassungsdelikts
I. Fehlgeschlagene Unterlassungsversuche
Liegt ein unmittelbares Ansetzen vor und steht ein strafbefreiender Rücktritt im Raum, ist beim Begehungsversuch zunächst zu klären, ob ein rücktrittsunfähiger fehlgeschlagener Versuch vorliegt, jedenfalls soweit man hierin eine eigenständige Fallkonstellation und nicht lediglich einen Unterfall des unfreiwilligen Rücktritts sieht.[8]
Insoweit ist festzustellen, dass auch ein Unterlassungsversuch fehlschlagen kann, namentlich dann, wenn der Täter zu der Einschätzung gelangt, dass der angestrebte Erfolg trotz seines pflichtwidrigen Untätig bleibens nicht eintreten wird.[9] So wäre im Beispielsfall von einem Fehlschlag auszugehen, wenn der Vater bemerkt, dass die Mutter des Kindes die Einstellung der Insulinverabreichung realisiert und die erforderlichen Rettungsmaßnahmen eingeleitet hat.
II. Zur Existenz unbeender Unterlassungsversuche
Ist der Versuch nicht fehlgeschlagen, wäre zur Bestimmung der vom Garanten zu erbringenden Rücktrittsleistung bei Orientierung an der beim Begehungsversuch vorherrschenden Lehre nunmehr zu klären, ob ein unbeendeter Versuch i.S.v. § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 oder ein beendeter Versuch i.S.v. § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 und Satz 2 vorliegt.[10]
Die herrschende Einheitslösung hält diese Differenzierung beim Unterlassungsversuch jedoch für entbehrlich und setzt diesen dem beendeten Begehungsversuch gleich.[11] Dies wird zum einen damit begründet, dass der Unterlassende immer nur dann unmittelbar zur Tatbestandserfüllung ansetzt, wenn er den Erfolgseintritt für möglich hält, was strukturell dem Stadium des beendeten Versuchs entspräche.[12] Zum anderen könne der Unterlassenstäter stets nur durch aktives Tun zurücktreten, so dass eine Aufgabe der weiteren Ausführung der Tat i.S.v. § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 nicht denkbar sei.[13]
Die Differenzierungslehre unterscheidet auch an dieser Stelle mehrere Versuchsstadien.[14] Ein Unterlassungsversuch soll solange unbeendet sein, wie der Garant davon ausgeht, den Erfolgseintritt durch Nachholen der ursprünglich gebotenen Handlung abwenden zu können.
Ein beendeter Versuch soll vorliegen, wenn er die Einleitung weitergehen- der Rettungsmaßnahmen für erforderlich hält. Im Beispielsfall wäre der Versuch nach dieser Auffassung solange unbeendet, wie der Vater davon ausgeht, den Todeseintritt dadurch abwenden zu können, dass er dem Kind Insulin verabreicht.
Ein beendeter Versuch wäre ab dem Moment gegeben, in dem der Vater zu der Einschätzung gelangt, das Leben des Kindes nur noch durch weitergehende Maßnahmen (bspw. die Verbringung in ein Krankenhaus) retten zu können.
1. Wortlautinterpretation
Ausgangspunkt der weiteren Betrachtung hat der Wortlaut des § 24 Abs. 1 zu sein, insbesondere ist die Prämisse der Einheitslösung zu überprüfen, die Formulierung in Satz 1 Alt. 1 passe nicht auf den Unterlassungsversuch.
Dies könnte damit begründet werden, dass der Begriff des Aufgebens umgangssprachlich mit einem Untätig werden gleichgesetzt wird, derjenige, der tatbestandliches Unrecht durch ein Unterlassen verwirklichen möchte, aber schwerlich Strafbefreiung dadurch erlangen kann, dass er untätig bleibt.[15] Dieses Begriffsverständnis erscheint indes keinesfalls zwingend.
Die Beantwortung der Frage, was unter der Aufgabe der weiteren Tatausführung i.S.v. § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 zu verstehen ist, hat sich am Tatbegriff und damit daran zu orientieren, worin die Tat als solche bestanden hätte bzw. wie der Täter sich die Tatbestands-verwirklichung vorgestellt hat.[16] Im Beispielsfall besteht die Tat darin, den drohenden Todeseintritt nicht durch die gebotene Insulin-verabreichung abzuwenden.
Entscheidet der Vater sich anders und rettet das Kind gerade mithilfe einer Insulinspritze, bewegt es sich durchaus im Rahmen des möglichen Wortsinns, wenn man davon spricht, dass er die Ausführung der Tat aufgegeben hat, die ja gerade darin bestand, auf die Lebensgefahr mit der Nichtvornahme der Insulinverabreichung zu reagieren.
Die Formulierung von der Aufgabe der weiteren Tatausführung wäre hiernach beim Unterlassungsversuch gleichbedeutend mit der Vornahme der nach der Tätervorstellung ursprünglich gebotenen und nach wie vor tauglichen Rettungshandlung.[17] Diese Interpretation vollzieht nichts anderes als den beim Unterlassungsdelikt auch in anderem Zusammenhang gebotenen Transfer des Gesetzestextes, da die Vorschriften des StGB (mit Ausnahme der echten Unterlassungsdelikte) generell auf den Fall des aktiven Tuns zugeschnitten sind.
So würde es das allgemeine Sprachverständnis nahelegen, ein Hilfeleisten (§ 27 Abs. 1) oder unmittelbares Ansetzen (§ 22) nur im Fall aktiven Tuns anzunehmen, und erst § 13 Abs. 1 lässt es unbedenklich erscheinen, dazu auch Unterlassungen zu subsumieren.
Wenn aber auf die Begehungsvariante zugeschnittene, strafbarkeitsbegründende Vorschriften um eine Unterlassungsvariante erweitert werden, hat dies im Gegenzug auch bei denjenigen Vorschriften zu erfolgen, die eine Strafbefreiung ermöglichen. Jedoch ist bei § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 eine auf Untätigkeit zugeschnittene Formulierung um eine Begehungsvariante zu erweitern, da die angestrebte Tatbestandsverwirklichung durch Unterlassen naturgemäß nur durch aktives Tun aufgegeben werden kann.
2. Zur Relevanz der Unterscheidung
Nach dem Vorstehenden könnte das Stadium, das die Differenzierungslehre als unbeendeten Versuch definiert, grundsätzlich unter § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 gefasst werden. Wenn dies von den Vertretern der Einheitslösung gleichwohl nicht getan wird, dürfte dies vorrangig darin begründet sein, dass in Fällen, in denen die Voraussetzungen des Satz 1 Alt. 1 erfüllt sind, der Garant in der Regel zugleich die Vollendung der Tat im Sinne der 2. Alt. verhindert.
So gibt der Vater, der das Leben des Kin- des rettet, indem er doch noch Insulin verabreicht, die Tatausführung auf und verhindert zugleich, dass der tatbestandliche Erfolg des § 212 eintritt. Da nun die 2. Alt. von § 24 Abs. 1 Satz 1 auf den Rücktritt vom Unterlassungsversuch besser zu passen scheint, da ihr Wortlaut unmittelbar auf die Vornahme aktiver Rettungshandlungen zugeschnitten ist, könnte man annehmen, für die 1. Alt. bestehe beim Unterlassungsdelikt kein Anwendungsbereich.
Grundbedingung hierfür wäre indes, dass bei Eingreifen der 1. Alt. stets auch die Voraussetzungen einer anderen Rücktrittsvariante vorlägen, da andernfalls dem Garanten ein nach dem Wortlaut der 1. Alt. möglicher Rücktritt unter Berufung auf die in der Mehrzahl der Fälle „noch einschlägigere“ 2. Alt. vorenthalten werden würde.
Zu prüfen ist daher, ob § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 beim Unterlassungsversuch eigenständige Bedeutung erlangen kann, was teilweise mit dem Hinweis darauf bestritten wird, dass die „triviale“ Feststellung, ob die Rücktrittsleistung in der ursprünglich gebotenen oder in darüber hinausgehenden Rettungsmaßnahmen besteht, nicht zu einer Erweiterung der Rücktrittsmöglichkeiten führe.[18]
Weitergehend wird an der Differenzierungslehre kritisiert, die von ihr herangezogene Abgrenzungsformel sei nicht praktikabel, da sich die von einem Garanten zu erbringende Erfolgsabwendungsmaßnahme im Deliktsverlauf regelmäßig gar nicht ändere.[19] Da eine Situation, in der der Garant annimmt, dass es zur Verhinderung des Erfolgseintritts erforderlich geworden ist, über die ursprünglich gebotene Rettungshandlung hinausgehende Maßnahmen zu ergreifen, häufig nicht eintrete, bestehe nach der Differenzierungslehre der merkwürdige Befund, dass vor der Deliktsvollendung ggf. ein unbeendetes, aber kein beendetes Versuchsstadium durchlaufen wurde.[20]
a) Eigenständigen Bedeutung von § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 beim Unterlassungsversuch
Ob die Feststellung, dass die Rücktrittsleistung im Nachholen der ursprünglich gebotenen Rettungshandlung besteht, lediglich „triviale“ Bedeutung hat, hängt davon ab, welche Rechtsfolgen hiermit einhergehen.
Nach Teilen der Differenzierungslehre soll der Garant bei einem unbeendeten Unterlassungsversuch im Fall der Vornahme der ursprünglich gebotenen Handlung keinerlei Erfolgsabwendungsrisiko tragen.[21] Geht der Vater im Beispielsfall davon aus, das Leben des Kindes durch Setzen einer Spritze retten zu können, und nimmt er diese Handlung vor, soll ihm nach dieser Auffassung der Umstand, dass das Kind verstirbt, weil es nur durch sofortige Verbringung in ein Krankenhaus zu retten gewesen wäre, nicht im Rahmen eines Vorsatzdeliktes zuzurechnen sein.
Gegen diese Auffassung spricht jedoch, dass § 24 einen Rücktritt bei objektiv zurechenbarem Erfolgseintritt nicht kennt.[22] Auch folgt aus einem Umkehrschluss zu §§ 8 und 16 Abs. 1, dass der Garant bei objektiv zurechenbarem Erfolgseintritt selbst dann aus dem Vorsatzdelikt haftet, wenn er den Vorsatz zwischen dem unmittelbaren Ansetzen und dem Erfolgseintritt aufgibt und Rettungsmaßnahmen ergreift, deren fehlende Eignung er irrtumsbedingt nicht erkennt.[23]
Dass die Zuordnung unbeendeter Unterlassungsversuche zu § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 auch bei Beachtung der Gesetzessystematik praktische Bedeutung erlangen kann, verdeutlicht indes folgende Abwandlung des Beispielsfalls: Der Vater bemerkt, dass sich der körperliche Zustand des Kindes bereits spürbar verschlechtert hat, worauf er beschließt, es doch noch mit Insulin zu versorgen.
Nach Setzen der Insulinspritze geht der Vater irrtümlich davon aus, das Kind gerettet zu haben und verlässt das Wohnzimmer, obgleich er weiß, dass es sicherer wäre, das Kind ärztlicher Behandlung zuzuführen. Tatsächlich wird der Todeseintritt nur dadurch verhindert, dass das Kind von seiner Mutter gefunden und in ein Krankenhaus gebracht wird. – Mangels Ursächlichkeit für die Nichtvollendung ist der Vater hier nicht nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 zurückgetreten.[24]
Auch ein Rücktritt nach § 24 Abs. 1 Satz 2 durch ernsthaftes Bemühen um die Nichtvollendung liegt zumindest dann nicht vor, wenn man mit dem BGH und Teilen der Literatur hierfür fordert, dass der Täter unter mehreren ihm zur Verfügung stehenden Rettungshandlungen diejenige ergreift, die er selbst für am Besten ge- eignet hält, um die Vollendung zu verhindern (vgl. sogleich).[25]
Erfüllt ist jedoch § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, da es bei Ausbleiben des Erfolges auch bei einem nur subjektiv unbeendeten Versuch ausreicht, die ursprünglich gebotene Handlung vorzunehmen.[26] Wesentlich ist dabei, dass die ursprünglich gebotene nicht gleichbedeutend sein muss mit der best- möglichen Rettungshandlung. Auch der Vater weiß, dass die erhebliche Verschlechterung des Wohlbefindens seines Kindes zur Folge hat, dass er – wie vom BGH bei § 24 Abs. 1 Satz 2 gefordert – die ihm bekannten Rettungsmöglichkeiten nur dann ausschöpft, bzw. dem Zufall nur dort keinen Raum lässt, wo er ihn vermeiden kann,[27] wenn er das Kind zusätzlich ins Krankenhaus verbringt.
Nimmt er aber irrtümlich an, dass das bloße Setzen der Spritze zwar nicht das bestmögliche, aber doch ein taugliches Rettungsmittel darstellt, dann entspricht die Nachholung dieser ursprünglich gebotenen Handlung der Aufgabe der weiteren Tatausführung (vgl. C. II. 1.). § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 hat daher beim Unterlassungsversuch eigenständige Bedeutung, wenn der Garant in der irrigen Annahme, hierdurch den Erfolgseintritt zu verhindern, die ursprünglich gebotene, aber nicht bestmögliche Rettungshandlung vornimmt und der Erfolg aus hiervon unabhängigen Gründen ausbleibt.[28]
Nebenbei ist festzustellen, dass beim Begehungsversuch in entsprechenden Irrtumskonstellationen ein Rücktritt ganz überwiegend für möglich gehalten wird. Schießt etwa der Täter vorsätzlich auf das Tatopfer und geht irrtümlich davon aus, dieses verfehlt zu haben, liegt bei fortbestehender Handlungsmöglichkeit ein unbeendeter Versuch vor, von dem der Täter auch dann durch Nichtweiterhandeln zurücktritt, wenn das in Wahrheit lebensbedrohlich verletzte Tatopfer durch Dritte gerettet wird.
b) Zur Praktikabilität der Abgrenzungsformel
Auch der Einwand, die von der Differenzierungslehre entwickelte Abgrenzungsformel sei nicht praktikabel, verfängt nicht. Zwar trifft es zu, dass sich die von einem Garanten zu erbringende Erfolgsabwendungsmaßnahme häufig im Zeitverlauf nicht ändert und dass es Bedenken hervorruft, im Fall der Deliktsvollendung davon zu sprechen, der Täter habe ein unbeendetes, aber kein beendetes Versuchsstadium durchlaufen.
Jedoch handelt es sich hierbei um ein rein terminologisches Problem. Die Begriffe des unbeendeten und beendeten Versuchs sind nicht dem Gesetz entnommen und ihr Gebrauch ist daher keinesfalls zwingend.[29] Man könnte stattdessen auch davon sprechen, § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 erfasse beim Unterlassen diejenigen Versuche, in denen der Täter davon ausgeht, den Erfolg durch Nachholen der ursprüngliche gebotenen Handlung abwenden zu können, ohne dass es bedenklich erschiene, dass im Fall der Deliktsvollendung ggf. zu keinem Zeitpunkt eine Situation bestand, in der der Garant es für erforderlich hielt, weitergehende Rettungsmaßnahmen einzuleiten.
Es ruft ja auch keinerlei Widerstand hervor, dass beim Begehungsdelikt das unmittelbare An- setzen mit dem Eintreten ins beendete Versuchsstadium zusammenfallen kann,[30] mit der Folge, dass dem Täter die Rücktrittsmöglichkeit in § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 zu keinem Zeitpunkt offen steht. Denn für die Rücktrittsprüfung kann es immer nur darauf ankommen, ob der Täter die in § 24 umschriebenen Voraussetzungen erfüllt; nicht jedoch darauf, ob er sich hierbei in einem von der Rechtslehre entwickelten, aber im Gesetz nicht entsprechend bezeichneten Versuchsstadium befindet.
c) Schlussfolgerungen
Die eigenständige Bedeutung von § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 beim Unterlassungsversuch macht eine Entscheidung zwischen Einheits- und Differenzierungslehre erforderlich. Dabei ist das wesentliche Argument bereits gefallen, namentlich der Umstand, dass die Einheitslösung Rücktritte in Konstellationen ausschließt, die vom Gesetzeswortlaut erfasst werden.
Man kann ferner gegen die Differenzierungslehre nicht einwenden, sie hebe die eindeutige Zuordnung der Versuchsstadien zu den einzelnen Rücktrittsvarianten in § 24 Abs. 1 auf, da ja ein Rücktritt vom unbeendeten Unterlassungsversuch häufig die Voraussetzungen der 1. sowie der 2. Alt. des Satz 1 erfüllen wird (vgl. C. II. 2.).
Denn die dem Gesetz fremde Kategorisierung von unbeendeten und beendeten Versuchen dient allein der Bestimmung der zu erbringenden Rücktrittsleistung, darf aber angesichts Art. 103 Abs. 2 GG nicht zur Folge haben, dass dem Täter eine Rücktrittsoption genommen wird, die ihm der Wortlaut des § 24 eröffnet.
3. Historische, systematische und teleologische Gesichtspunkte
Die nach dem Gesetzeswortlaut vorzugswürdige Differenzierungslehre wird durch sämtliche weiteren „klassischen“ Auslegungsmethoden[31] gestützt. Dies gilt zunächst für die historische Interpretation, wie der Vergleich mit der bis 1975 geltenden Rücktrittsregelung verdeutlicht.[32] Die für das Stadium des unbeendeten Versuchs geltende Regelung in § 46 Nr. 1 a.F. knüpfte den Rücktritt daran, dass der Täter die Ausführung der beabsichtigten Handlung aufgibt.
Dabei muss erläuternd darauf hingewiesen werden, dass bis 1975 eine § 13 vergleichbare Vorschrift nicht existierte, die Strafbarkeit unechten Unterlassens aber gleichwohl anerkannt war.[33] Die nähere Betrachtung von § 46 Nr. 1 a.F. ergibt, dass deren Nichtanwendung auf Unterlassungsversuche durchaus nahe liegt. Zwar erstreckt sich der dort gebrauchte Begriff der „Handlung“ auf das Unterlassen ebenso wie auf das aktive Tun,[34] jedoch kennzeichnet das unmittelbare Ansetzen beim Unterlassen, dass der Garant bereits pflichtwidrig untätig geblieben ist (vgl. B.).
Aufgeben kann er daher nicht die Ausführung einer nur beabsichtigen Handlung, sondern allenfalls das weitere Unterlassen oder (wie in § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 vorgesehen) die weitere Ausführung der Tat. Dass durch das 2. Gesetz zur Reform des Strafrechts § 13 eingefügt und § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 in einer Weise formuliert wurde, die den Rücktritt vom Unterlassungsversuch viel eher erfasst als die Vorgängerregelung in § 46 Nr. 1 a.F., spricht für das der Differenzierungslehre zugrundeliegende Begriffsverständnis.
Auch systematische Erwägungen stützen die Anwendung von § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 auf Unterlassungsversuche. Die in § 13 Abs. 2 vorgesehene fakultative Strafmilderung bringt die gesetzgeberische Wertung zum Ausdruck, dass das Unrecht eines Unterlassens tendenziell geringer wiegt als dasjenige aktiven Tuns.[35] Hiermit wäre es nicht zu vereinbaren, in ähnlich gelagerten Irrtumskonstellationen [hierzu C. II. 2. a)] dem aktiv Handelnden die Rücktrittsmöglichkeit nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 zu eröffnen, während man sie dem Unterlassenden vorenthält.
Nicht ganz eindeutig ist das Ergebnis der teleologischen Auslegung, was aber vorwiegend damit zusammenhängt, dass Sinn und Zweck der Rücktrittsregelung bis heute nicht zufriedenstellend geklärt werden konnten.[36] Sieht man die ratio des § 24 darin, dass eine Bestrafung des Täters im Falle des Rücktritts nicht erforderlich ist, da er von selbst in die Legalität zurückgekehrt ist,[37] spricht dies aber zumindest nicht gegen die hier befürwortete Sicht.
Denn bei Zugrundelegung der bei Versuch und Rücktritt primär maßgeblichen Tätervorstellung[38] bringt der Garant seine „Ungefährlichkeit“ bereits durch Ergreifen der ursprünglich gebotenen und nach seiner Vorstellung auch weiterhin tauglichen Rettungshandlung zum Ausdruck.
III. objektives Rücktrittsverhalten
Auch wenn man die Existenz unbeendeter Unterlassungsversuche anerkennt, ändert dies nichts daran, dass ein Rücktritt beim Unterlassungsversuch stets ein aktives Tätigwerden voraussetzt.[39] Während es beim unbeendeten Unterlassungsversuch aber grundsätzlich ausreicht, dass der Garant die ursprünglich gebotene Rettungshandlung ergreift, ist beim beendeten Unterlassungsversuch erforderlich, dass er entweder für die Nichtvollendung mitursächlich wird oder sich (im Fall fehlender Verhinderungskausalität) ernsthaft um die Nichtvollendung bemüht.
Insoweit ergeben sich keine maßgeblichen Unterschiede zum Rücktritt vom Begehungsversuch, so dass es zu einer Wiederkehr bekannter Problemstellungen kommt. Dies gilt zunächst für den Rücktritt nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2, bei dem der BGH grundsätzlich die bloße Mitursächlichkeit für die Nichtvollendung ausreichen lässt,[40] während Teile der Literatur fordern, dass der Zurücktretende die aus seiner Perspektive bestmögliche oder zumindest eine „verlässliche“ Rettungsbemühung vornimmt[41].
Nicht einheitlich beurteilt werden ferner die Rücktrittsanforderungen nach § 24 Abs. 1 Satz 2, bei dem mehrheitlich gefordert wird, dass der Zurücktretende die aus seiner Perspektive bestmögliche Rettungshandlung ergreift,[42] während andere die Vornahme einer beliebigen Handlung ausreichen lassen, die nach seiner Vorstellung für die Nichtvollendung irgendwie mitursächlich wird [43].
IV. Freiwilligkeit und Rechtsfolge
Die Freiwilligkeit des Rücktritts bemisst sich beim Unterlassungsver- such nach den gleichen Kriterien wie beim Begehungsversuch, zu fragen ist also danach, ob der Täter aus autonomen oder heteronomen Motiven gehandelt hat bzw. ob er „Herr seiner Entschlüsse war“[44].
Auch im Hinblick auf die Rechtsfolgen bestehen keine Unterschiede zum Begehungsdelikt, so dass der Täter Strafbefreiung nur hinsichtlich desjenigen Deliktes erhält, von dem er zurückgetreten ist.[45] Beispielsweise bleibt eine etwaige Strafbarkeit wegen vollendeter Körperverletzung durch Unterlassen von einem wirksamen Rücktritt von einem Totschlagsversuch durch Unterlassen unberührt.
D. Schluss
Der Beitrag hat dargelegt, dass auch beim Unterlassungsversuch unbeendete von beendeten Versuchen unterschieden werden können. Bedeutsamer ist freilich die damit einhergehende Aussage, dass auch § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 auf Unterlassungsversuche Anwendung findet und hierdurch in bestimmten Fallkonstellationen eine Rücktrittsmöglichkeit eröffnet wird, die bei Anwendung lediglich der § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 und Satz 2 nicht bestünde.
Was die objektiven Rücktrittsanforderungen sowie die Voraussetzung der Freiwilligkeit betrifft, kann weitgehend auf die zum Rücktritt vom Versuch des Begehungsdeliktes erlernten Grundsätze zurückgegriffen werden, mit der Besonderheit, dass der Rücktritt beim Unterlassungsversuch stets ein aktives Tun erfordert.
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Fußnoten:
1 Der Autor ist Akademischer Rat auf Zeit am Kriminologischen Seminar (Prof. Dr. Torsten Verrel) der Universität Bonn.
2 Im Folgenden nicht andersbezeichnete §§ sind solche des StGB.
3 Herzberg, in: MDR 1973, 89 (93); Lönnies, in: NJW 1962, 1950; Schröder, in: JuS 1962, 81 (86).
4 Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 2. Aufl., S. 210, 216.
5 Grünwald, in: JZ 1959, 46 (48 f.).
6 Hoffmann-Holland, Strafrecht AT, 2. Aufl., Rn. 650.
7 Hoffmann-Holland, Strafrecht AT, 2. Aufl., Rn. 650. Ähnlich Exner, in: Jura 2010, 276 (279); Roxin, Strafrecht AT II, § 29 Rn. 271 f.
8 Hierzu Schroeder, in: NStZ 2009, 9 ff. sowie die Erwiderung von Roxin, in: NStZ 2009, 319 ff
9 BGH, NJW 2003, 1057 f.; Exner, in: Jura 2010, 276 (279); Freund, in: NStZ 2004, 326 (327).
10 Hierzu BGH, NStZ 2005, 263 (264); 2008, 508 (509); 2009, 264 (266); Heger, in: StV 2010, 320 (322 f.).
11 BGH, NStZ 1997, 485; 2003, 252 (253); Brand/Fett, in: NStZ 1998, 507 (508); Herzberg, in: MDR 1973, 89 (93); Roxin, Strafrecht AT II, § 30 Rn. 138 f.; Zaczyk, in: NK-StGB, 4. Aufl., § 24 Rn. 47.
12 BGH, NStZ 1997, 485; Kudlich/Hannich, in: StV 1998, 370.
13 Kudlich, in: JA 2008, 601 (604); Küper, in: ZStW 112 [2000], 1 (4 f.); Roxin, Strafrecht AT II, § 29 Rn. 269.
14 Ahmed, Rücktritt vom versuchten unechten Unterlassungsdelikt, S. 84 ff.; Baier, in: JA 2003, 629 (630 f.); Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 24 Rn. 27; Exner, in: Jura 2010, 276 (280); Krey/Esser, Strafrecht AT, 5. Aufl., Rn. 1319 f.; Lilie/Albrecht, in: LK-StGB, 12. Aufl., § 24 Rn. 467
15 Exner, in: Jura 2010, 276 (280); Kudlich, in: JA 2008, 601 (604); Küper, in: ZStW 112 [2000], 1 (3 f.).
16 Insoweit zutreffend BGHSt 39, 221 (230); zur Maßgeblichkeit der Tätervorstellung Herzberg/ Hoffmann-Holland, in: MüKo-StGB, 2. Aufl., § 24 Rn. 89.
17 Eser, in: Schönke/Schröder, 28. Aufl., § 24 Rn. 28; Lilie/Albrecht, in: LK-StGB, 12. Aufl., § 24 Rn. 470 f.
18 Küper, in: ZStW 112 [2000], 1 (23, 42). Ähnlich Roxin, Strafrecht AT II, § 29 Rn. 270.
19 Eingehend Küper, in: ZStW 112 [2000], 1 (25 ff.).
20 Küper, in: ZStW 112 [2000], 1 (26 f.)
21 Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 24 Rn. 22a; Lönnies, in: NJW 1962, 1950 (1952).
22 Herzberg/Hoffmann-Holland, in: MüKo-StGB, 2. Aufl., § 24 Rn. 51.
23 Vgl. BGH, NStZ 2010, 503; Puppe, in: NK-StGB, 4. Aufl., § 15 Rn. 103.
24 Zu den Rücktrittsanforderungen bei § 24 Abs. 1 Satz1 Alt. 2 StGB BGH, NStZ 2004, 614 (615); 2008, 508 (509); Beckemper, in: JA 2003, 277 (278).
25 Zu den Rücktrittsanforderungen bei § 24 Abs. 1 Satz 2 StGB BGHSt 31, 46 (49 ff.); 33, 295 (302);
Jäger, Examens-Repetitorium Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl., Rn. 320; Roxin, Strafrecht AT II,
§ 30 Rn. 265 ff.
26 Exner, in: Jura 2010, 276 (280); Krey/Esser, Strafrecht AT, 5. Aufl., Rn. 1320.
27 Vgl. insoweit BGHSt 31, 46 (49); BGH NStZ-RR 2010, 276 (277).
28 Vgl. Exner, in: Jura 2010, 276 (280 f.); Krey/Esser, Strafrecht AT, 5. Aufl., Rn. 1320; Lilie/Albrecht, in:LK-StGB, 5. Aufl., § 24 Rn. 472.
29 Hierzu Heckler, Die Ermittlung der beim Rücktritt vom Versuch erforderlichen Rücktrittsleistung anhand der objektiven Vollendungsgefahr, S. 151; von Heintschel-Heinegg, in: ZStW 109 [1997], 29 (35); Herzberg, in: JR 1991, 159 (160); Jäger, Der Rücktritt vom Versuch als zurechenbare Gefähr dungsumkehr, S. 86 ff.; Scheinfeld, in: NStZ 2006, 375.
30 Insbesondere in der Konstellation der „Giftfalle“; Roxin, Strafrecht AT II, § 29 Rn. 192.
31 Hierzu Herzberg, in: JuS 2005, 1 ff.; Saueressig, in: JURA 2005, 525 ff.
32 Vgl. auch Herzberg/Hoffmann-Holland, in: MüKo-StGB, 2. Aufl., § 24 Rn. 45 f.
33 Vgl. Rudolphi, in: MDR 1967, 1 (2).
34 Puppe, in: NK-StGB, 4. Aufl., Vor §§ 13 ff. Rn. 51; Roxin, Strafrech AT II, § 29 Rn. 266.
35 BGH NStZ, 1990, 77; Stein, in: GA 2010, 129 (152).
36 Zaczyk, in: NK-StGB, 4. Aufl., § 24 Rn. 1. Eingehend auch Eser, in: Schönke/Schröder, StGB,
28. Aufl., § 24 Rn. 2 ff.; Haas, in: ZStW 123 [2011], 226 (232 ff.); Roxin, Strafrecht AT II, § 30 Rn. 4 ff.
37 So etwa BGHSt 9, 48 (52); Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 24 Rn. 2.
38 Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 43. Aufl., Rn. 636 ff.
39 Heger, in: StV 2010, 320 (323); Lilie/Albrecht, in: LK-StGB, 4. Aufl., § 24 Rn. 468.
40 BGH, NStZ 2004, 614 (615); 2006, 503 (505); NStZ-RR 2010, 276 (277).
41 Subjektiv bestmögliche Rettungsbemühungen fordert Jakobs, in: ZStW 104 [1992], 82 (90). Für verlässliche Rettungsbemühungen Zaczyk, in: NK-StGB, 4. Aufl., § 24 Rn. 61. Für eine Differenzierung zwischen eigenhändiger und fremdhändiger Erfolgsverhinderung Roxin, Strafrecht AT II, § 30 Rn. 243. Die h.L. fordert, dass dem Zurücktretenden das Ausbleiben der Tatvollendung objektiv zugerechnet werden kann; Bloy, in: JuS 1987, 528 (533); Eser, in: Schönke/ Schröder, 28. Aufl., § 24 Rn. 66.
42 BGH, NStZ 2008, 508 (509); NStZ-RR 2000, 41 (42); 2010, 276 (277).
43 Grünwald, in: FS Welzel (1974), 701 (715); vgl. auch Noltensmeier/Henn, in: JA 2010, 269.
44 BGH, NStZ 1993, 279; 1999, 395; 2007, 399 (400); Hoffmann-Holland, Strafrecht AT, 2. Aufl., Rn. 714.
45 BGH, NStZ 1997, 387; Guhra/Sommerfeld, in: JA 2003, 775.
Akad. Rat a. Z. Dr. Johannes Koranyi aus Iurratio Ausgabe 4 / 2013