Ein soziales Projekt mit Vorbildcharakter
Theorie vs. Praxis
Im Studium erscheint es oftmals leicht: „Wie hat T sich strafbar gemacht?“ Nach eingehender Prüfung stellt man die Strafbarkeit fest, die Rechtsfolge bleibt meist unbeachtet. Erst später im Strafprozessrecht und kriminologischen Schwerpunktbereich wird sich mit der Frage befasst, wie der Täter zu sanktionieren bzw. das Strafmaß zu bestimmen ist.
Von Strafzwecken wird ein Jeder im Verlaufe seines Studiums schon einmal gehört haben. Punitur, quia peccatum est (Es wird bestraft, weil Unrecht begangen worden ist) – die absoluten Straftheorien, der Gedanke der Sühne, General- und Spezialprävention, aber auch die verschiedenen Vereinigungstheorien werden dem Ein oder Anderen nicht unbekannt sein. Dass T infolge der Tatbestandsverwirklichung ins Gefängnis muss, um eine mehrjährige Haftstrafe abzusitzen, und ob und wie die Resozialisierung in der Gesellschaft funktioniert, ist dagegen nicht Teil unserer juristischen Ausbildung. Solche essentielle Themen weisen aber durchaus Berührungspunkte zu den Rechtswissenschaften auf. Sie kommen in vollgepackten Stundenplänen und Unmengen an Pflicht- und Examensstoff jedoch oftmals zu kurz.
Der Resozialisierungsgedanke in der Realität
Wie sieht es also in der Praxis aus? Wir haben den Kreis 74, Straffälligenhilfe Bielefeld e.V. entdeckt und möchten euch heute über die ehrenamtliche Arbeit mit Strafgefangenen und ihren Angehörigen dort berichten. Hierzu haben wir Norbert Schaldach vom Kreis 74, Straffälligenhilfe Bielefeld e.V. befragt.
Iurratio: Bitte stellen Sie sich und die Ziele Ihres Vereins kurz vor.
Norbert Schaldach: Ich bin Diplom-Sozialpädagoge und arbeite seit 1983 bei Kreis 74. Anfangs habe ich ausschließlich mit straffälligen Jugendlichen gearbeitet, später auch mit erwachsenen Straftätern und deren Angehörigen. Seit vielen Jahren werbe und schule ich Ehrenamtliche für unseren Verein.
Der Kreis 74 wurde rein ehrenamtlich gegründet und hat bis heute sehr viele Ehrenamtliche, die in den umliegenden Haftanstalten arbeiten oder sich mit Inhaftierten per Briefkontakt unterhalten. Im Laufe der Jahre hat der Verein eine Reihe von rein hauptamtlich besetzten Arbeitsbereichen geschaffen: Ein Wohnprojekt für haftentlassene Männer, eine Beratungsstelle für Straffällige oder deren Angehörige, ein Jugendhilfeprojekt namens Brücke Bielefeld.
Iurratio: Vor Kurzem haben Sie Ihr vierzigjähriges Vereinsjubiläum gefeiert. Blicken Sie auf eine Zeit zurück, in der Sie vielen Straffälligen und ihren Angehörigen helfen konnten?
Norbert Schaldach: Zweifellos, denn das wurde uns immer wieder von vielen Menschen erklärt, mit denen wir Kontakt hatten. Das Helfen geht nicht – wie mir mal in den 1980er-Jahren ein Polizist unterstellen wollte – in die Richtung Strafvereitelung, sondern soll die Menschen in Krisen begleiten und stabilisieren. Nach der Haftentlassung bemühen wir uns, einen Weg in selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
Iurratio: Gibt es eine Art Alltag?
Norbert Schaldach: Alltag? Auch nach über 30 Jahren ist mir das Wort fremd.
Iurratio: Mit welchen Problemen werden Sie im Rahmen Ihrer Arbeit konfrontiert?
Norbert Schaldach: Probleme bereitet die Wohnungs- und Arbeitssuche. Heutzutage kaum vorstellbar, aber vor 30 Jahren verfügten wir über eine kleine Kartei von Firmen, wo wir schnell und unkompliziert Leute in Arbeit bringen konnten. Heute gibt es stattdessen zahlreiche Maßnahmen, die oft demotivierende Pseudoveranstaltungen sind. Eine Weisheit von Professor Binsen ist halt, dass zwei Lebensumstände die Rückfallgefahr drastisch senken: Erstens eine gesellschaftlich akzeptabel bezahlte Arbeit, mit der man sein Leben, seine kleinen Wünsche finanzieren kann. Keine Maßnahme der Arbeitsagentur mit anschließendem Praktikum und anschließender Übernahme in geringfügige Beschäftigung ist geeignet, Menschen zu stabilisieren. Und zweitens eine stabile Liebes- und Lebensgemeinschaft.
Iurratio: Bieten Sie auch Unterstützung beim sogenannten Täter-Opfer-Ausgleich an?
Norbert Schaldach: Die Wirksamkeit des Täter-Opfer-Ausgleichs ist wissenschaftlich international bestätigt. Die Täter müssen sich mit den Folgen ihrer Tat auseinandersetzen. Die Opfer erhalten Gelegenheit, den Täter mit nichtmateriellen Folgen zu konfrontieren.
Das Opfer ist kein Zeuge, sondern handelndes Subjekt des Verfahrens. Auf einen Punkt gebracht: Die Beteiligten erhalten ihren Konflikt zurück. Wir begleiten das Verfahren gezielt, um einen für beide Seiten akzeptablen Ausgleich herzustellen.
Leider ist der Täter-Opfer-Ausgleich in Bielefeld ein trauriges Kapitel. Das Justizministerium hat 2013 die langjährigen Zuschüsse für den Täter-Opfer-Ausgleich des Kreis 74 gekappt. Hintergrund: Die StA Bielefeld war nicht bereit, dieses wirkungsvolle Mittel in dem Maße zu nutzen, wie das deren Kollegen in anderen Städten tun.
Unser Lokalblatt Neue Westfälische titelte anschließend treffend: „Die Opfer sind egal“. Aber in Bielefeld gibt es noch den Täter-Opfer-Ausgleich bei jugendlichen und heranwachsenden Straftätern. Den finanziert die Stadt Bielefeld, und unser Verein führt das über unser Jugendhilfeprojekt Brücke Bielefeld aus. Es handelt sich dabei nur um Diversionssachen nach JGG.
Iurratio: Ihr Verein basiert auf ehrenamtlichem Engagement. Wer ist bei Ihnen engagiert? Wie kann man selbst Teil Ihrer Organisation werden?
Norbert Schaldach: Wir haben Menschen aller Stände und jeden Alters dabei. Eine sehr gemischte Gruppe, auf die wir richtig stolz sind. Eine Rentnerin, die vorher in einem Kaufhaus die Abteilung für Damenunterbekleidung geleitet hat, ein selbstständiger Handwerksmeister, der seine Firma mit schwarzen Zahlen an seine Söhne übergeben hat oder Studierende diverser Fakultäten.
Mitmachen kann bei uns jeder, der genug Zeit und Interesse mitbringt. Das Kleingedruckte besprechen wir dann im Einzelgespräch. Aber man sollte aus der Region stammen, damit man an unseren Fortbildungen und der Supervision teilnehmen kann.
Iurratio: Sehen Sie Haftstrafen in ihrer derzeitigen Ausgestaltung als effektives Mittel zur Resozialisierung an?
Norbert Schaldach: Nein. Jede Firma, die mit dieser finanziellen Ausstattung so wenig von ihren verkündeten Zielen erreicht, wäre schon lange dichtgemacht worden. Fakt ist: Die Subkulturen in den Knästen blühen und verhindern effektve Resozialisierung. Das ist kein Versagen der Mitarbeiter. Der Fehler liegt im System. Beispiel: Über dem JGG schwebt der Erziehungsgedanke – sehr gut. Aber wie viel davon kann man im Alltag eines Jugendknastes finden?
Ich habe junge Menschen kennengelernt, die dort verrückt geworden sind. Ihre Psyche hat die Härte des Alltags nicht ausgehalten. Manche fliehen dann in Drogen oder schließen sich der Subkultur an, um zu überleben. Resozialisierung muss nach der Haftentlassung stattfinden, dazu sind die Institutionen wie Bewährungshilfe oder wir, die freie Straffälligenhilfe, aber viel zu knapp ausgestattet.
Wenn jemand behauptet, dass dazu das Geld fehle, dann rate ich zum sofortigen Geldsparen: Schluss mit der Kriminalisierung von Cannabiskonsumenten. Der Berliner Richter Andreas Müller hat vorgerechnet, dass wir in den letzten 40 Jahren 500.000 Menschen wegen dieses Konsums inhaftiert haben – ein kostspieliger Irrsinn. In den Niederlanden, wo man dieses Rauschmittel legal erwerben und konsumieren darf, wird weniger Cannabis konsumiert als in Deutschland. Die Mafia freut sich, dass unsere Gesetze ihr Angebot illegaler Drogen sichern.
Als Letztes weise ich noch darauf hin, dass die Hälfte aller derzeit Inhaftierten in Deutschland weniger als Jahr Haftstrafe haben, 10% sogar nur eine Ersatzfreiheitstrafe absitzen. Diese riesige Gruppe von Menschen muss man nicht kostspielig wegsperren. Man könnte sie mit Sozialstunden belegen, dann hätte die Gesellschaft sogar noch was davon.
Iurratio: Vielen Dank für Ihre Zeit und das Interview, Herr Schaldach!
Fazit
Herr Schaldach ist ein Paradebeispiel für ehrenamtliches Engagement in diesem Bereich. Zweifelsohne sollte es mehr Angebote wie die Straffälligenhilfe des Kreis 74 geben. Die Freiheitsstrafe scheint eine aus dem deutschen Strafrecht nicht wegzudenkende Rechtsfolge zu sein. Ob sie denn gerecht ist, steht auf einem anderen Blatt.
Wie Schaldach bereits selbst erklärte, steht im Jugendstrafrecht der Charakter der Erziehung der Jugendlichen im Vordergrund und Sanktionen sollen immer dem Zweck dienen, eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu fördern, während der Fokus im Erwachsenenstrafrecht hier nicht zu liegen scheint.
Wichtig ist es jedoch, den Inhaftierten einen Weg zurück in die Gesellschaft und ein selbstbestimmtes Leben zu bieten. Die Mängel und Schwachstellen, die unser Rechtssystem in der Sanktionierung Straffälliger zu haben scheint, gehören kompensiert. An diesen Stellen knüpfen ehrenamtliche Vereine wie Kreis 74 e.V. an und versuchen so, für eine effektive Resozialisierung zu sorgen.
Wenn ihr euch für die ehrenamtliche Arbeit des Kreis 74 e.V. interessiert, besucht doch die Homepage http://kreis74.de/.