„Heute ist ja alles Stress, was übers Email-Lesen hinausgeht. Luxusproblem!“ habe ich kürzlich auf Facebook gelesen. (Der eKurs gegen Prüfungsangst (www.stressfrey.com) der Autorin ist inhaltlich in ihrer 25jährigen Erfahrung begründet – als Beraterin an einer Psychotherapeutischen Beratungsstelle für Studierende, Kognitive Verhaltenstherapeutin und als KVT-Ausbilderin. Für weitere Infos kontaktieren Sie Claudia Frey via Mail cf@claudiafrey.de mit dem Betreff „stressfrey“.)
Stimmt das? Sind Studierende, die mit Stress kämpfen, Jammerlappen und sollten besser die Uni verlassen? Sind Stress und BurnOut Modethemen, die man nicht so ernst nehmen sollte? Oder tauchen sie genau deshalb häufig in den Medien auf, weil sie für viele – auch junge Menschen – wichtige Belastungsfaktoren geworden sind, die mehr denn je zum Scheitern der eigenen Träume führen können?
Ein Jurastudium erfordert echtes Durchhaltevermögen über eine sehr lange Strecke, viel Fleiß und große Frustrationstoleranz. Selbst als disziplinierter Mensch ist es schwer, Runde um Runde neue Kräfte zu mobilisieren. Zumal, wenn vielleicht einmal etwas nicht wunschgemäß verläuft, wenn eine Hausarbeit oder eine Klausur trotz aller Anstrengung schlecht ausgefallen ist, wenn die Belohnung für all die Anstrengung auszubleiben scheint. Hinzu kommt das Wissen um schlechte Chancen auf einen Traumjob, wenn kein Prädikatsexamen erreicht wird. Aber: Das war schon immer so.
Was ist heute anders, schlimmer, stressiger?
Es ist kein Geheimnis: Uns stehen unendlich viel mehr Informationen als je zuvor zur Verfügung, die verarbeitet sein wollen, die Geschwindigkeit und die Komplexität unseres Lebens hat sich vervielfacht. Ein Urlaub ohne die Klausurergebnisse nachzuschauen? Ohne Kontakt mit den Kommilitonen über Facebook? Ohne ständige Eventbenachrichtigungen und sonstige News? Mehrere Stunden mal nicht erreichbar sein? Einfach mal ein Wochenende komplett abtauchen? Oder gar ein paar Wochen?
Vor einigen Jahren völlig normal und mangels Technik kaum anders machbar. Gerade sehr leistungsorientierte Studierende gönnen sich diese Pausen aber oft kaum. Wenn dann noch Ehrgeiz dazu führt, trotz erster Anzeichen von Erschöpfung weiter zu powern, kann eine tückische Abwärtsspirale in Gang kommen: Enttäuschende Leistungen, weil man nicht fit war. Noch mehr Anstrengung, noch weniger Pausen, noch mehr Erschöpfung, noch schlechtere Leistungen – schließlich innere Blockaden und Angst vor der nächsten Klausur: Gerade wenn Studierende eben keine Jammerlappen sind, sondern unbedingt erfolgreich sein möchten, ist das kein seltenes Muster.
Trotzdem: Auch vor 20 Jahren (oder vor 10 oder vor 50) war ein Studium anstrengend, gerieten Studierende in innere Abwärtsspiralen und hatten Prüfungsangst. Allerdings hat sich die Welt weiter entwickelt und zwar nicht nur in Bezug auf das Internet. Wenn Sie an andere Lebensbereiche denken, beispielsweise den Sport: Selbstverständlich ist es heute nicht anstrengender als früher, einen Marathon zu laufen. Aber die Konkurrenz hat sich verändert und auch die Trainingsmöglichkeiten.
Ein erfolgreicher Läufer wird sich heute anders vorbereiten, wird neue Möglichkeiten nutzen. Genauso ist es im Studium: Die Konkurrenz ist besser geworden, aber auch die Möglichkeiten zur Bewältigung der Anforderungen haben sich weiterentwickelt. Wenn man heute erfolgreich sein will, kann und sollte man sinnvollerweise die Möglichkeiten nutzen, die heute zur Verfügung stehen. Hierzu zählt zum Beispiel das psychologische Wissen um Stress- und Angstbewältigung.
Ist Stress tatsächlich das Problem?
Wenn man trotz der ständig präsenten Stressfaktoren Leistung bringen und Prüfungsangst vermeiden will, sollte man verstehen, wie Stress und Ängste zusammenhängen. Zunächst ist es wichtig zu wissen, dass Stress nicht an sich schlecht ist. Im Gegenteil. Wenn sich das empfundene Stresslevel im mittleren Bereich befindet, ist man meist sogar besonders leistungsfähig. Die Adrenalinausschüttung lässt sich positiv als Energieschub für die zu bewältigende Aufgabe nutzen. Gelassenheit im Angesicht der nächsten Prüfung ist also gar nicht das Ziel, Stress sollte nur nicht überhand nehmen.
Wenn Stressregulation aber über längere Zeit nicht gelingt, steigt die Gefahr, dass sich daraus Blockaden und Ängste entwickeln. Man verwendet in diesem Zusammenhang oft das Bild vom überlaufenden Fass: Alle möglichen stressigen Erfahrungen und Erlebnisse landen in diesem Fass, wobei es sich um völlig verschiedene „Stressoren“ handeln kann. Die Anstrengung, eine mehrstündige Klausur zu schreiben, kommt zu der An- strengung hinzu, vor Freunden „cool“ wirken zu wollen. Oder zum Streit mit einer wichtigen Person. Oder zur Befürchtung, die Erwartungen des Vaters nicht erfüllen zu können. Oder auch zu einer Erkältung. Oder zur ständigen Beschäftigung im Urlaub mit der womöglich nicht bestandenen Prüfung.
Wenn das Fass voll ist und überläuft, also eine innere Stressgrenze überschritten ist, reagiert der Körper mit Angst. Das ist nicht eingebildet oder „Gejammer“, sondern kann sehr massiv sein. Häufig reagieren Betroffene dann übrigens mit Scham oder auch Schuldgefühlen, denn sie wollten ja unbedingt viel leisten, sind dafür über ihre Grenzen gegangen – und nun geht (im schlimmsten Fall) gar nichts mehr.
Wer unter Leistungsblockaden und Ängsten leidet, kann davon ausgehen, dass das „innere Fass“ zu voll ist – und dass es sich lohnt, sich mit Stress und Stressbewältigung zu beschäftigen. Was genau dabei sinnvoll ist, kann individuell natürlich sehr verschieden sein. Dennoch gibt es einige grundsätzliche Überlegungen, die ich hier ausführen möchte.
Was als tun bei zu viel Stress, Leistungsblockaden und Ängsten?
Es ist nicht sinnvoll, Stress und Ängste zu unterdrücken. Ebenso wenig sinnvoll ist es, sich schubweise oder dauerhaft etwa durch Energy-Drinks, Kaffee oder ClubMate zu pushen, von anderen Suchtmitteln ganz zu schweigen. In Zeiten ohne allzu viel äußeren Stress mag es sinnvoll sein, eine Weile die Zähne zusammen zu beißen, und darauf zu hoffen, dass sich alles beruhigt, die Ängste verschwinden und verlorene Energie wieder kommt.
Eine solche Haltung bringt auf Dauer in unserer stressigen Welt aber meist nicht viel. Im schlimmsten Fall werden die eigene Körperreaktionen durch das Unterdrücken von Stress & Ängsten und durch stark erhöhten Koffeinkonsum sogar noch heftiger und unkontrollierbarer. Das wäre schade, da es inzwischen viele Erkenntnisse über unsere inneren Mechanismen gibt, die man gut nutzen kann, um Stress und auch Angst wieder zu regulieren und in den Griff zu bekommen. Ein wichtiger Schritt im Umgang mit Ihren Ängsten und Ihrem Stress besteht in einer Bestandsaufnahme.
Wie würden Sie beispielsweise folgende Fragen beantworten?
• Welche Stressoren gibt es derzeit in Ihrem Leben?
• Welche davon können Sie direkt beeinflussen? Bei welchen muss noch ein Umgang damit gefunden werden?
• Wenn Sie einen Timer auf eine Minute setzen und ohne zu pausieren aufschreiben, was Ihnen derzeit Freude macht: Im Studium und auch privat – auf welche und auf wie viele Punkte kommen Sie?
• Wie wohl fühlen Sie sich körperlich auf einer Skala von 0-10, wenn Sie Schlaf, Appetit, Konzentrationsfähigkeit und Energielevel bedenken? Wie zufrieden sind Sie damit?
Wenn Ihnen auffallen sollte, dass es mehr und/oder gewichtigere Stressoren als positive Faktoren in Ihrem Leben gibt und Sie außerdem bei zwei bis drei der typischen körperlichen Stresssymptome keine besonders gute Punktzahl vergeben konnten, sollten Sie handeln.
Aber wie? Es gibt keine Standardantwort. Jeder Mensch ist anders, es gibt kein „one fits all“-Rezept gegen Stress und gegen Stresssymtome. Dennoch gibt es einige Hinweise, um Ihr ganz persönliches Fass wieder zu leeren und trotz unvermeidbarem Stress optimal leistungsfähig zu sein.
• Stress ist eine innere Reaktion, kein äußeres Ereignis. Was auch immer „im Außen“ geschieht, wird (meist) erst durch unsere Bewertung, unsere Glaubenssätze belastend. Natürlich ist beispielsweise eine schlechte Note wohl für kaum jemanden erfreulich. Aber ob sie zu einer persönlichen Krise führt oder zu mehr Anstrengung beim nächsten Mal anspornt, hängt sozusagen von unserer Software ab. Womöglich ist es hier Zeit für ein Update.
Das ist nicht immer ganz einfach und nicht immer alleine zu bewerkstelligen, aber es gibt sehr gute Möglichkeiten, auch in kürzerer Zeit wichtige Veränderungen in der eigenen Einstellung zu äußeren Faktoren zu erreichen, z.B. über gute Selbsthilfeliteratur, Selbstcoaching, studentische Beratungsstellen oder auch über Verhaltenstherapie.
• Vielleicht ist es fürs Erste aber auch ausreichend, sich klar zu machen, welche Stressfaktoren Sie relativ leicht beeinflussen können und welche nicht. Eine Stress auslösende Prüfung werden Sie ver- mutlich nicht an sich abstellen können. Aber vielleicht ist ein zwi- schenmenschlicher Konflikt zu klären, der zeitgleich an Ihnen nagt – ihr Stresslevel könnte dadurch ausreichend entlastet sein, um sich wieder auf Wesentliches konzentrieren zu können.
• Es klingt simpel, aber manchmal ist die passende Lösung auch tat- sächlich einfach die, sich weniger vorzunehmen oder sich eine Pau- se zu gönnen – oder schlichtweg ausreichend zu schlafen.
• Vielleicht geht es aber auch um eine Optimierung von Lerntechniken. Auch das kann ein wichtiger Faktor in Bezug auf Ihr Stressniveau sein. • Ebenso wie die Klärung der eigenen Motivation. Denn nicht genau zu wissen, warum man sich überhaupt so abmüht, kann bremsen, Kraft kosten und darüber Stress verursachen.
• Außerdem lohnt sich eine Beschäftigung mit Entspannungstechniken und anderen Stressmanagementstrategien. Klassiker wie „Autogenes Training“ oder „Progressive Muskelrelaxation (PMR)“ wirken manchmal wie ein Cliché, über das man sich lustig macht. Aber Fakt ist: Viele setzen diese Techniken erfolgreich gegen Stress und Angst ein, sie werden beispielsweise an Volkshochschulen gelehrt.
• Hilfreich ist oft auch Ausdauersport wie Joggen, Radfahren, Schwimmen, Rudern, Skilanglauf oder Bergsteigen. Auch das klingt vielleicht banal, wird aber gerade in Stresszeiten von vielen vernachlässigt.
• Auch das bewusste Genießen schöner Dinge, welcher Art auch immer, kann dazu beitragen, den inneren „Stresstopf “ zu leeren. Denken Sie hierbei an Ernährung, Bewegung, Natur, Sexualität oder Kultur – Kunst und Musik.
Kurzum: Reduzieren Sie diejenigen Stressoren, die Sie beeinflussen können und bauen Sie all das in Ihr Leben ein, was Ihnen Energie gibt.
Gute Leistungen trotz viel Stress
Für die Überwindung von Schwierigkeiten beim Studium, sogar von echten Leistungsblockaden und Prüfungsangst, braucht es nach meiner Erfahrung nur in wenigen Fällen eine Psychotherapie/Verhaltensthe- rapie. Oft noch nicht einmal eine persönliche Beratung – obwohl das natürlich sehr hilfreich sein kann, ebenso wie zum Beispiel eine professionelle Anleitung zum Selbstcoaching.
Oft genügt die ernsthafte Auseinandersetzung mit den inneren Mustern oder den problematischen Verhaltensweisen, um einen entscheidenden Schritt weiter zu kommen und optimale Leistungen zu erbringen – zum Beispiel anhand der Fragen in diesem Text oder im offenen Gespräch mit einem Freund.
Mit welcher Methode auch immer – wer lernt, sein Stresslevel günstig zu beeinflussen, wird auf Dauer leistungsfähiger sein als jemand mit gleichem Wissensstand, der nicht über diese Steuerungsmechanismen verfügt. Erfolgreich Studierende sind nämlich nicht unbedingt besonders kluge Menschen ohne Ängste. Sondern Menschen, die gelernt haben, mit ihren ganz persönlichen Stressfaktoren so umzugehen, dass sie dadurch nicht von ih- ren Zielen abgehalten werden. Und solche, die sich nicht scheuen, sich ihren Problemen offen zu stellen und sich bei Bedarf auch Unterstützung gönnen.
Und: Luxusprobleme gibt es nicht. Im Gegenteil: Ich bin der Überzeugung, dass wir uns den Luxus nicht leisten sollten, bestehende Schwierigkeiten so lange zu ignorieren, bis sie zu echten Problemen geworden sind.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg auf Ihrem ganz persönlichen Weg!
Claudia Frey, so veröffentlicht in Iurratio Ausgabe 1/2014
Anmerkung: Claudia Frey (www.claudiafrey.de) ist approbierte Psychotherapeutin und kognitive Verhaltenstherapeutin. Seit mehr als 15 Jahren arbeitet sie in eigener Praxis in Heidelberg und unterstützt Menschen dabei, ihre Ängste und andere starke Emotionen gut zu bewältigen. Außerdem entwickelt sie eKurse, um Menschen zu unterstützen, die zwar keine Psychotherapie benötigen, aber dennoch von psychologischem Fachwissen profitieren können.