An den Universitäten lernen wir viel materielles Recht, viele Theorien, unendlich viele Streitigkeiten und Definitionen, die wir alle auswendig lernen müssen, obwohl sie später bei der Arbeit immer zum Nachschlagen zur Verfügung stehen. Wir beschäftigen uns mit abstrakten Problemen, die oft nicht von primärer Bedeutung bei unserer späteren praktischen Tätigkeit sind.
In dem Moment, in dem wir die Universitäten verlassen, womöglich in einer Kanzlei anfangen, Mandanten betreuen, kommen anderen Aspekten plötzlich eine weitaus größere Bedeutung zu.
Es geht um die Einhaltung von Fristen, das Beachten von Formalitäten. Die in der Klausur schnell festgestellte Unzulässigkeit der Klage führt zu einem hübschen Hilfsgutachten, in der Praxis kann das drastischere Folgen haben.
Dass auch das Einhalten von Formalitäten, so wie es uns in ZPO beigebracht wurde, nicht immer ausreicht, musste nun ein Anwalt am Amtsgericht Tiergarten erfahren. Am Terminstag stieg der Anwalt mit seinem Mandanten um 8.30 Uhr in ein Taxi um zur Hauptverhandlung zu gelangen. Diese war für 9.15 Uhr angesetzt.
In einer Entfernung von 1,5 km zum Gericht geriet der PKW in einen Stau. Um 9.01 Uhr rief der Verteidiger bei der Geschäftsstelle des AG an und unterrichtete über den Stau, kündigte an, dass er 15 bis 30 Minuten zu spät kommen werde.
Letztlich erreichten er und sein Mandat den Gerichtssaal um 9.32 Uhr. Leider zwei Minuten zu spät. Das Amtsgericht hatte bereits in der Sache aufgerufen, einen Zeugen, sowie einen Sachverständigen entlassen, sowie den Einspruch des Mandanten nach § 74 Abs. 2 OwiG verworfen.
§ 74 Abs. 2 OwiG besagt:
„Bleibt der Betroffene ohne genügende Entschuldigung aus, obwohl er von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht entbunden war, hat das Gericht den Einspruch ohne Verhandlung zur Sache durch Urteil zu verwerfen.“
Das Kammergericht war mit dieser Entscheidung nicht einverstanden. Es stellte fest, dass die ratio von § 72 Abs. 2 OwiG ist, dass es eine Vermutung gibt, dass derjenige, der nicht rechtzeitig oder ohne Entschuldigung nicht erscheint, sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will.
Es geht darum, zu verhindern, dass der Rechtsmittelführer eine Sachentscheidung hinauszögert. Eine derartige Vermutung ist aber widerlegt, wenn der Betroffene noch vor dem Termin oder in der normalen Wartezeit die Gründe sowie die voraussichtliche Ankunftszeit mitteilt. Hierzu hatte unter anderem bereits das Oberlandesgericht Köln entschieden( OLG Köln VRS 42, 184 f.).
In einem solchen Fall muss das Gericht einen längeren Zeitraum warten, völlig unabhängig von den Gründen für die Verspätung, es sei denn, dieser verhält sich grob fahrlässig oder vorsätzlich.
Im vorliegenden Fall hatte der Verteidiger 14 Minuten vor Verhandlungsbeginn beim Amtsgericht Bescheid gegeben und auch das Eintreffen angekündigt. Es ist mithin davon auszugehen, dass der Betroffene seinen Anspruch weiterverfolgen wollte.
Die Beiden trafen obendrein nur 2 Minuten nach Ablauf der üblichen Wartezeit ein, weswegen eine Unzumutbarkeit des Wartens nicht gegeben sein kann. Zwar hatte der Sachverständige nur ein eingeschränktes Zeitfenster zur Verfügung, aber dies kann noch kein Argument sein, „kurzen Prozess“( Zitat KG) zu machen. Auch dass der als Zeuge geladene Polizeibeamte wegmusste, kann hierfür keinen Grund darstellen.
(Az: KG, Beschl. v. 21.07.2016 – 3 Ws (B) 382/16