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Probleme bei der Vernehmung von Kindern, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind

Zum Umgang mit Kindern und ihrer Aussage gibt es unter Psychologen und Juristen einen breitgefächerten und bisweilen kontroversen Diskurs. Dieser Aufsatz stellt einige Praxisansätze und -probleme dar, die im Rahmen von Interviews mit zwei Kriminalbeamtinnen besprochen wurden.
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Probleme bei der Vernehmung von Kindern, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind

A. Einleitung
„Wie ähnlich war der Unfall?“ – so lautet der Titel eines Aufsatzes, der sich mit der Grundproblematik von Zeugenaussagen beschäftigt.1 Der Verfasser stellt hier ein Experiment mit Zeugen2 vor, die einen Unfall beobachten und diesen später auf einem Video nicht einmal wiedererkennen.

An diesem Beispiel wird bereits eines der generellen Probleme von Zeugenaussagen deutlich: Obwohl sie in Strafprozessen einen hohen Bedeutungswert haben können ist ihre Zuverlässigkeit eher zweifelhaft. Berücksichtigt man diese nahezu unbestrittene Erkenntnis, so bedarf es keiner großen Vorstellungskraft um zu erkennen, dass dieses grundsätzliche Problem insbesondere beim kindlichen Zeugen eine massive Verstärkung erfahren kann.

Zum Umgang mit ihnen und ihrer Aussage gibt es unter Psychologen und Juristen einen breitgefächerten und bisweilen kontroversen Diskurs. Dieser Aufsatz stellt unter Berücksichtigung des Diskursstandes einige Praxisansätze und -probleme dar, die im Rahmen von Interviews mit zwei Kriminalbeamtinnen besprochen wurden und diesem Aufsatz zugrunde liegen.

Letztlich erfolgt nach der umfassenden Betrachtung des Themenkomplexes der Vernehmung von Kindern eine kritische Auseinandersetzung mit den derzeit propagierten und praktizierten Lösungsansätzen. Die besondere Problemrelevanz ergibt sich hierbei aus der Tragweite der kindlichen Aussage für den Beschuldigten und die daraus möglicherweise resultierende Verurteilung und gesellschaftliche Ausgrenzung.

B. Besonderheiten des kindlichen Zeugen
Wie das einleitende Beispiel zeigt, können Zeugenaussagen grundsätzlich als fehleranfällig bezeichnet werden. Allerdings kommen bei Kindern altersspezifische Besonderheiten hinzu, die ihre Aussagefähigkeit beeinflussen.

Im Folgenden wird versucht, die Schwierigkeiten bei der Vernehmung von Kindern in ein grobes, dreistufiges Raster zu gliedern, dass sich an verschiedenen Alters- und Reifestufen orientiert, wobei die jeweiligen Altersgrenzen nach individuellem Hintergrund fließend verlaufen.3

Es wird davon ausgegangen, dass die Aussagetüchtigkeit4 bei unter vierjährigen Kindern definitiv nicht gegeben ist5 , was entwicklungspsychologisch u.a. mit dem sehr geringen Erinnerungsvermögen begründet wird.6

I. Aussagetüchtigkeit von Vier- bis Sechsjährigen
Insbesondere bei vier- bis sechsjährigen Zeugen gelten zahlreiche Besonderheiten. Gerade an der unteren Altersgrenze sind die Aussagen der Kinder nur selten brauchbar. Allerdings gibt es auch hier Ausnahmen, in denen sehr junge Kinder unter besonderen Umständen Aussagen machen, die sie sogar als Hauptzeugen und nicht lediglich als „Stützzeugen“ qualifizieren können.7

In dieser Gruppe ist von Vorteil, dass die Kinder sich noch nicht verstellen können und unmittelbar und vorbehaltlos das schildern, was sie erlebt haben. Hierbei können auch ihre Mimik und Gestik als klares Indiz gewertet werden, da sie diese noch nicht bewusst steuern können8 und es für Kleinkinder daher sehr schwer ist, unbemerkt falsche Angaben zu machen9 .

Häufige Probleme ergeben sich bei der Aussage von Vier- bis Sechsjährigen in Bezug auf ihre Ausdrucksfähigkeit und die Möglichkeit, Geschehnisse detailliert zu verbalisieren. Hierbei liegt es nahe, dass Kindern das entsprechende Vokabular fehlt.10 Die Deutung und Interpretation des von ihnen Beschriebenen muss aber mit Bedacht erfolgen, da sie häufig, wenn auch mit wenigen Worten, genau das aussagen, was sie meinen.11

Auch kann die unter Umständen sehr geringe Ausdrucksfähigkeit dazu führen, dass der Vernehmende zwar eine Vorstellung von dem Gemeinten bekommt, diese „Vermutung“ für das weitere Verfahren aber nicht ausreichend ist.

So mag man bei den Worten „Papa, Kerze, Popo, aua…“ eine bestimmte Assoziation haben, reicht die Ausdrucksfähigkeit des betroffenen Kindes allerdings nicht über diesen Level hinaus und finden sich auch keine weiteren Beweise, wird hieraus für die Strafverfolgung kein hinreichender Beweiswert erwachsen. Durch die begrenzte Ausdrucksfähigkeit versuchen jüngere Kinder das Erlebte oft durch eine nonverbale Demonstration zu verdeutlichen, sodass eine genaue Protokollierung nicht nur des Gesprochenen, sondern auch der gemachten Gesten erforderlich wird.12

Der noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts häufig erhobene Einwand, gerade Kleinkinder könnten häufig das Erlebte nicht von ihrer Fantasie trennen, scheint heute weitestgehend entkräftet.13 Vielmehr stellte sich heraus, dass gerade jüngere Kinder aufgrund ihres mangelnden Verständnisses für sexuelles Verhalten eher dazu neigen, ungezwungen das wiederzugeben, was sie tatsächlich erlebt haben.14

Letztlich tritt gerade bei Kleinkindern noch ein relativ schneller Erinnerungsverlust ein, so dass sich ihre Aussagetüchtigkeit unter Umständen wöchentlich verschlechtern kann und eine zeitnahe Vernehmung erforderlich ist.15 Abschließend ist anzumerken, dass laut einer Studie die Aussagezuverlässigkeit von Kleinkindern im Alter von vier Jahren bei 35 %, im Alter von Fünf bei 42 % und im Alter von Sechs bei 48 % liegt, sodass auch Kleinkinder verwertbare Aussagen machen können.16

II. Aussagetüchtigkeit von sieben- bis zehnjährigen Kindern
Im Gegensatz zu der Altersgruppe der Kleinkinder nehmen Kinder im Alter zwischen sieben und zehn Jahren Sachverhalte differenzierter und zusammenhängender wahr und können diese umfangreicher wiedergeben.17

Sie entwickeln zunehmend ein selbstkritisches Element ihrer Persönlichkeit, sodass sie den Grad ihrer Erinnerungssicherheit besser einschätzen können.18 Auch Grundschulkinder lassen noch spontane und unverstellte Reaktionen in ihre Erzählungen einfließen, wenn etwa ihr Vokabular nicht ausreicht. Diese Merkmale können es erleichtern, einen authentischen Bericht zu identifizieren.19

Eindeutige Vorteile zeigen sich bei Grundschulkindern in Bezug auf ihre Gedächtnisleistung und die Gesprächsführungsfähigkeit.20 Negativ könnte sich in der hier betrachteten Altersgruppe auswirken, dass die Kinder unter Umständen aus anderen Sphären (z.B. Fernsehprogramme, ältere Kinder, etc.) bereits erste Informationen über Sexualdelikte erlangt haben können.21

Hinzu kommt, dass Grundschulkinder teilweise in der Lage sind, gewisse Sachverhalte zu verschweigen, wobei eine bewusste Falschaussage aufgrund des leicht zu durchschauenden Auftretens der Kinder eher zu entlarven ist.22

Zusammengefasst stellt die Gruppe der Sieben- bis Zehnjährigen jedoch die zum Zeugnis am besten geeignete Altersgruppe dar, da Kinder diesen Alters einerseits eine relativ gut ausgeprägte Sprachfähigkeit, eine realistische Gesamteinstellung23 sowie eine ausgeprägte Unvoreingenommenheit aufweisen und andererseits die negativen Einflüsse begrenzt sind und sich leicht identifizieren lassen.24

III. Aussagetüchtigkeit von elf- bis dreizehjährigen Kindern
Bei der Aussagetüchtigkeit von Kindern im sogenannten vorpubertären Alter muss erstmals eine geschlechtsspezifische Unterteilung vorgenommen werden. Im Gegensatz zu den männlichen Zeugen ab elf Jahren, deren Verhalten und Eignung kaum Unterschiede zu denen der vorherigen Altersstufe aufweist, tritt bei den weiblichen Zeuginnen eine vergleichsweise große Abweichung auf.25

Demgemäß bezieht sich ein Großteil der folgenden Ausführungen in erster Linie auf Mädchen dieser Altersstufe. Grundsätzlich besteht bei Kindern dieses Alters die Gefahr, dass sie entweder bereits eigene sexuelle Erfahrungen gemacht oder entsprechende Informationen aus den Medien oder ihrem persönlichen Umfeld aufgenommen haben. Problematisch hieran ist, dass eine Tat mit relativ authentischen Bildern beschrieben werden kann, die so nicht stattgefunden hat.26

Zudem haben Kinder dieses Alters aufgrund des zunehmenden Wissens bezüglich ihrer Sexualität eher ein entsprechendes Verständnis, aus dem ein Schamempfinden und somit auch eine Hemmung zur Aussage erwachsen kann.27 Zeuginnen dieser Altersstufe lassen sich eher durch ihre Umwelt beeinflussen und können so Fakten zurückhalten oder falsche Tatsachen behaupten, wobei die Motive hierfür vielschichtig sind.

In Betracht käme z.B. der beabsichtige Schutz der eigenen Familie oder die Beschönigung der eigenen Rolle in einem Delikt.28 Positiv kann sich auf die vorpubertären Zeugen auswirken, dass sie ein größeres Verständnis für Zusammenhänge entwickelt haben sowie Geschehnisse bewusster wahrnehmen und größtenteils bereits ein gewisses Verantwortungsbewusstsein entwickelt haben, dass die Gefahr einer absichtlichen Falschaussage wieder verringert.29

Abschließend kann festgehalten werden, dass zwar entwicklungspsychologisch die besten Voraussetzungen für eine taugliche Aussage vorliegen, andererseits aber durch diese weite Entwicklung auch eher Verfälschungen zu befürchten sind.30

IV. Zwischenfazit
Die vorangehende Darstellung ist zwar relativ grob erfolgt, sollte aber in hinreichender Weise deutlich gemacht haben, dass Kinder, egal welchen Alters, als Zeugen weder grundsätzlich geeignet noch ungeeignet sind. Vielmehr ist ein differenzierter Umgang mit dem jeweiligen Kind und seinem individuellen Hintergrund dringend erforderlich.

C. Die eigentliche Vernehmung
Bei der Vernehmung eines Kindes müssen zahlreiche Faktoren berücksichtigt werden, damit eine wahrheitsgemäße, verwertbare Aussage gewonnen werden kann. Zum einen spielt das Vernehmungsumfeld eine wichtige Rolle, zum anderen muss gerade bei Kindern ein besonderes Augenmerk auf die Art und Weise der Vernehmung gelegt werden.

I. Vernehmungsumfeld
Bezüglich des räumlichen Vernehmungsumfeldes herrscht Einigkeit darüber, dass es möglichst „kindgerecht“ eingerichtet sein sollte.31 Grundsätzlich können daher etwa große Räume, die u.U. bedrohlich wirken, die Aussagebereitschaft eines Kindes hemmen.32

Zu denken sei hier beispielsweise an große Gerichtssäle. Tatsächlich werden bei der polizeilichen Vernehmung spezielle Räume benutzt, die durch ungewöhnlich freundliche, farbenfrohe und spielzimmerartige Einrichtung eine weit „kindgerechtere“ Raumatmosphäre schaffen als in Behörden sonst üblich. Eine solch vertraut wirkende Atmosphäre kann das Kind beruhigen und sich somit positiv auf die Aussagebereitschaft auswirken.33

Neben diesen räumlichen spielen aber auch personenbezogene Faktoren eine Rolle. So ergab eine Untersuchung, dass 90% der Kinder in ihrer Aussagebereitschaft gehemmt sind, wenn ihre Eltern anwesend sind.34 Daher wird in der Praxis versucht, Kinder immer in Abwesenheit ihrer Eltern zu vernehmen.

Eine Ausnahme gilt bei besonders stark gehemmten Kleinkindern, wo es erforderlich sein kann, die Eltern hinzuzuziehen, um ein gewisses Vertrauen und eine damit einhergehende Aussagebereitschaft zu schaffen.35 Ebenfalls vermieden werden sollte die Anwesenheit von weiteren Kindern gleicher Altersklasse bzw. grundsätzlich weiterer Personen im Vernehmungsumfeld, da hierdurch eine starke Hemmung hervorgerufen werden kann.36

Letztlich zeigt sich in Bezug auf ein förderliches Vernehmungsumfeld, dass sich bereits vermeintliche Kleinigkeiten negativ auf das Aussageverhalten eines Kindes auswirken. Festzustellen ist, dass die geforderten Voraussetzungen bei einer polizeilichen Vernehmung, im Gegensatz zu einer Gerichtsverhandlung, problemlos zu schaffen sind.37 Demnach kann insbesondere bei Gerichtsverhandlungen die Gefahr bestehen, dass die Aussagebereitschaft eines Kindes umfeldbedingt stark eingeschränkt ist.

II. Durchführung der Vernehmung
In diesem Abschnitt sollen Besonderheiten bei der Durchführung der Vernehmung aufgezeigt werden. Hierbei wird ein Blick auf spezifische Merkmale der Belehrung geworfen sowie die konkrete Art und Weise der Vernehmung beleuchtet.

1. Die Belehrung
Auch Kinder müssen vor Beginn ihrer Vernehmung gem. §§ 52 III, 55 II StPO über ihr Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrecht belehrt werden. Die Aufnahmefähigkeit bzgl. der Belehrung kann gem. § 52 II StPO angenommen werden, wenn der Minderjährige über die notwendige „Verstandesreife“ verfügt.

Dies soll der Fall sein, wenn das Kind erkennen kann, dass der Beschuldigte etwas Unrechtes getan hat, für das ihm Strafe droht und seine Aussage zu dieser Bestrafung beitragen kann.38 Gerade bei Taten im engeren familiären Umfeld ist jedoch zu befürchten, dass die betroffenen Kinder den Zusammenhang zwischen ihrer eigenen Aussage und den möglichen Konsequenzen noch nicht sehen und keine Abwägung durchführen können.39

In besonderen Fällen kann daher gem. §§ 52 II StPO, 1629, 1909 BGB ein Ergänzungspfleger bestellt werden.40 Prinzipiell ist darauf zu achten, dass Kinder altersentsprechend verständlich belehrt werden41, wobei aber die Gefahr der Einschüchterung des Kindes bedacht und durch geeignete sprachliche Konstrukte umgangen werden muss42. Die Belehrung stellt auch bei kindlichen Zeugen ein wesentliches Element für die spätere strafprozessuale Verwertbarkeit dar, sodass sie zwar „kindgerecht“, aber auch fehlerfrei und vollständig erfolgen muss.

2. Art und Weise der Vernehmung
Bei der Vernehmung müssen allerdings weitere kindspezifische Besonderheiten beachtet werden. Auch hier gilt die grundsätzliche Aufteilung einer Vernehmung in den freien Bericht und die daran anschließenden Fragen.43 Befragungen von Kindern sollten angemessen eingeleitet werden und diese sollten das Gefühl bekommen, dass die Vernehmungsperson aufrichtig und ehrlich mit ihnen umgeht.44

Selbstverständlich sollte hierbei eine einfache und verständliche Sprache gewählt werden.45 Ein besonderes Augenmerk muss allerdings auf die Suggestibilität kindlicher Zeugen gelegt werden. Sie sind aufgrund ihrer teils eingeschränkten Gedächtnisentwicklung und der mitunter nur gering ausgebildeten Skepsis und Standhaftigkeit besonders anfällig für suggestive Einflüsse46, wobei dies für jüngere Kinder stärker gilt als für ältere.47

Gerade durch den öffentlichen und medialen Diskurs über den sexuellen Missbrauch von Kindern fand innerhalb der Bevölkerung eine Sensibilisierung statt, die mitunter unangenehme Nebeneffekte haben kann. So sieht sich ein Kind, sobald der Verdacht einer Straftat aufkommt, zahlreichen äußeren – wenn auch innerfamiliären – Einflüssen ausgesetzt, da Personen im Nahbereich gezielt versuchen, bestimmte Informationen über den möglichen sexuellen Missbrauch zu erhalten.

Hieraus resultierend kann es zu unsachgemäßen Belastungsaussagen kommen.48 Suggestive Einflüsse spielen jedoch auch bei der eigentlichen Befragung durch die Ermittlungsperson eine wichtige Rolle. Grundsätzlich sollten Vernehmungen von Kindern bis dreizehn Jahren keinesfalls länger als 30 Minuten, bei jüngeren Kindern als 20 Minuten andauern49, da nach dieser Zeit die Empfänglichkeit für suggestive Einflüsse auch durch eigentlich nicht-suggestive Fragen stark zunimmt.50

Ein Mensch kann jedoch bereits durch sein äußeres Auftreten suggestiv auf Kinder wirken. Gerade ängstliche und unsichere Kinder können durch besonders autoritär wirkende Personen – wie z.B. Uniformierte oder Robenträger – beeindruckt und für suggestive Einflüsse geöffnet werden, ohne das überhaupt irgendetwas gesagt wird.51 Demnach sollte gerade hier versucht werden, durch ein angepasstes Auftreten diese erste, nonverbale Suggestibilitätsanfälligkeit zu senken.

Bei der eigentlichen Befragung gibt es Frageformen, die eine besonders suggestive Wirkung haben und die von Endres, Scholz und Summa übersichtlich dargestellt werden.52 Neben diesen offensichtlich beeinflussenden Fragetechniken gibt es aber auch weitere, teilweise unabsichtlich erfolgende Suggestionen. Als kleiner Einstieg sei hier auf das Modell Schulz von Thuns verwiesen, der von den vier Seiten einer Nachricht spricht.

Demnach gibt es neben der Sachebene noch drei weitere Ebenen, auf denen beim gesprochenen Wort eine Botschaft übermittelt wird.53 Hierbei ist insbesondere der mutmaßlich vermittelte Appell in einer Nachricht von Bedeutung. Kinder, die sich in einer Vernehmungssituation befinden, fühlen sich häufig unwohl und versuchen, möglichst das auszusagen, was ihrer Meinung nach erwartet wird.54

Eine solche Aussage kann z.B. durch zu viel Lob und Ermunterung seitens des Vernehmenden bewirkt werden, da das Kind glaubt, es mache alles richtig, wenn es nur immer weiter erzähle.55 Nahezu suggestionsfrei sind offene Fragen, bei denen das Kind zu einem bestimmten Teil des Sachverhalts Ergänzungen vornehmen kann („W“-Fragen oder „Leerfragen“).56

Sollte es hierbei Verständnisprobleme geben, sind allerdings auch gezielte Nachfragen eher unbedenklich, solange keine unterschwelligen Erwartungen oder Vorgaben durchscheinen.57 Wenn es auf Details ankommt, die ein Kind in freien Erzählungsformen nicht erwähnt, ist es möglich, mit Mehrfachwahlfragen zu arbeiten, bei deren Beantwortung dem Kind eine Vielzahl an Alternativen geboten werden und es nicht lediglich A und B als Antwortmöglichkeit geben darf.58

III. Zwischenfazit
Insgesamt sollte deutlich geworden sein, dass es bewusste und unbewusste Formen der Suggestion gibt und diese gerade bei Kindern neben dem Vernehmungsumfeld eine große Rolle spielen. Ein sensibler und vor allem geschulter Umgang scheint demnach im Bereich der Aussagegewinnung unverzichtbar zu sein.

D. Sekundärviktimisierung und Praxisansätze
Nach wie vor umstritten ist, inwieweit die Vernehmung eines (kindlichen) Opferzeugens im Rahmen des Strafverfahrens zu einer Sekundärviktimisierung führt. Die StPO hält einige Maßnahmen vor, um den kindlichen Zeugen potentiell zu entlasten.

I. Problem der Sekundärviktimisierung
Unter Sekundärviktimisierung versteht man ein erneutes „Opferwerden“ und ein erneutes Aufkommen der tatbedingten, negativen Gefühle durch die Konfrontation mit Tat und/oder Täter im Strafverfahren.59

Allerdings ist hierzu eine sehr differenzierte Betrachtungsweise erforderlich, da sich ein Verfahren keinesfalls nur negativ auswirken muss. Einigkeit herrscht lediglich darüber, dass die erneute Begegnung mit dem Täter für das Kind häufig eine Belastung darstellt.60

Die Auseinandersetzung mit dem möglicherweise traumatisierenden Tatgeschehen, so sie denn in einer angemessenen Atmosphäre stattfindet, wird teilweise sogar als förderlich für die Verarbeitung des Erlebten betrachtet.61 Letztlich ist die Gefahr der Sekundärviktimisierung durch eine zeitnahe Vernehmung im Gegensatz zu der früher vertretenen Auffassung62 als eher gering einzustufen.

II. Praxisansätze zum Schutz des Kindes
An diese Erkenntnisse anschließend gibt es einige Regelungen in der StPO, die für den Zeugen entlastend wirken sollen. So bietet § 247 S. 2 StPO z.B. die Möglichkeit, den Angeklagten für die Zeit der Vernehmung eines unter 18-jährigen Zeugen von der Verhandlung auszuschließen, wenn ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Betroffenen bei Anwesenheit des Angeklagten droht.

Dieser Nachteil kann sich gerade bei jüngeren Zeugen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind und in bestimmten Abhängigkeiten zum Tä- ter stehen, durch die Konfrontation realisieren.63 Darüber hinaus besteht unter besonderen Voraussetzungen die Möglichkeit der audio-visuellen Vernehmung eines Kindes nach § 58a StPO, um den Mitschnitt hiervon gem. § 255a StPO in die Hauptverhandlung einzuführen.

Dies wird aber in der Praxis auf Grund der hohen Anforderungen und der organisatorischen Probleme kaum genutzt, da trotz audio-visueller Vernehmung die erneute Befragung in der Hauptverhandlung regelmäßig eingefordert wird, sodass der „Schutzzweck“ zumeist entfällt.

E. Fazit
Zunächst sollte deutlich geworden sein, dass es sich bei der Vernehmung von Kindern um ein hoch sensibles Thema handelt – zum einen spielt der Schutz des Kindes, dass u.U. Opfer einer grausamen Tat geworden ist, eine große Rolle, zum anderen stehen für den Beschuldigten eine erhebliche Haftstrafe als schärfster Eingriff staatlicher Gewalt sowie in jedem Falle eine gesellschaftliche Verunglimpfung in Rede.

In diesem Spannungsfeld scheint es im Interesse beider Parteien dringend notwendig zu sein, einen Ausgleich dahingehend zu schaffen, dass durch eine geschulte und angemessene Gewinnung einer möglichst glaubhaften Aussage des Kindes die wahrheitsnahe Betrachtung des Sachverhalts ermöglicht wird, auch wenn „die absolut wahre Aussage“ nie gewonnen werden kann.

Gerade im ersten Teil wurde versucht zu zeigen, dass das Dogma des aussageuntüchtigen Kindes veraltet ist. Nach den oben gemachten Ausführungen drängt sich gar der Verdacht auf, Kinder könnten aufgrund ihrer leichten Durchschaubarkeit und der häufig noch fehlenden inneren Motivation zur Lüge mitunter die „besseren“ Zeugen sein. Allerdings wurde auch auf die große Suggestibilität vor allem junger Kinder hingewiesen.

Vor diesem Hintergrund wird erneut klar, wie wichtig es ist, eine unmittelbare, unverfälschte und möglichst tatnahe Aussage zu gewinnen und festzuhalten. Aus den Gesprächen mit den Kriminalbeamtinnen ergab sich, dass es im Bereich der Polizei in den letzten Jahren – vermutlich auch aufgrund des öffentlichen Diskurses – Fortschritte bei der Ausbildung gegeben hat.64

Problematischer scheint der Fortbildungsstand in Bezug auf die geeignete Gewinnung einer Kindesaussage viel mehr bei den zuständigen Richtern zu sein.65 Betrachtet man die aktuell angewendeten Maßnahmen zur Entlastung des kindlichen Opfers im Ermittlungs- bzw. Hauptverfahren, so bleibt festzuhalten, dass die audio-visuelle Vernehmung in der derzeit durchgeführten Art und Weise ihren Zweck größtenteils verfehlt.

Vielmehr scheint – wie so oft – als Reaktion auf die öffentliche Debatte eine teils wenig durchdachte Gesetzesänderung vorgenommen worden zu sein, die ihr Ziel praktisch nur in den seltensten Fällen erreicht. Eine unverzügliche Vernehmung ist insbesondere bei jüngeren Kindern erforderlich, um einem Erinnerungsverlust entgegenzuwirken und die suggestiven Einflüsse zu minimieren.

Dies scheint unter Berücksichtigung der derzeitigen Verfahrenslängen66 kaum ohne eine vorgeschaltete Vernehmung realisierbar zu sein. Das oben erwähnte Spannungsfeld könnte demnach nur dahingehend aufgelöst werden, dass unter Anerkennung der besonderen Belastung kindlicher Zeugen, der Gefahr ihrer Suggestibilität sowie eines Erinnerungsverlustes, eine spezielle Ausbildung auch der Richter im Bereich der Vernehmungspsychologie erfolgt.

Zudem müssten die Verwaltungsabläufe gerade im Vorverfahren effizienter gestaltet werden, um eine frühe richterliche, ggf. audio-visuelle Vernehmung zu ermöglichen. Die Verwertung der so gewonnenen Aussage sollte dann auch im eigentlichen Hauptverfahren die Regel sein, um einen bestmöglichen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen zu gewährleisten.

Der Ausschluss des Angeklagten im Hauptverfahren wäre entgegen dieser Variante weniger geeignet, da hier die bereits große Zeitspanne seit der ersten Vernehmung eine Rolle spielt und die Beschuldigtenrechte erst recht nicht effektiv wahrgenommen werden können. Somit scheint es für einen geeigneten Schutz des Kindeswohls einerseits und der bestmöglichen Gewährleistung der Beschuldigtenrechte andererseits keiner weiteren Gesetzesänderung zu bedürfen, sondern vielmehr einer konsequenten und vorbehaltlosen Ausbildung des beteiligten Personals, gerade auf tatrichterlicher Ebene.

Letztlich könnte so dem Interesse des Kindes auf ein möglichst wenig belastendes Verfahren bereits Genüge getan werden. Andererseits würde eine Entlarvung einer Falschaussage durch den Richter im Vorverfahren dazu führen, dass durch die Nichteröffnung des Hauptverfahrens auch die gesellschaftliche Stigmatisierung des Beschuldigten weitestgehend unterbleibt. Schlussendlich ist festzuhalten, dass es zwar keine Auflösung des Spannungsverhältnisses dahingehend gibt, dass sich die widerstreitenden Interessen plötzlich ergänzen und in einer wechselseitigen „Symbiose“ voll und ganz voneinander profitieren.

Es scheint aber auch die oftmalige Behauptung, Beschuldigtenrechte und Opferschutzbelange würden sich unversöhnlich gegenüberstehen, so nicht haltbar zu sein. Demzufolge bleibt zu hoffen, dass im Interesse aller Beteiligten in allen Bereichen der Praxis Bemühungen angestellt werden, die Vernehmung von Kindern so professionell und damit fehlerresistent wie möglich zu gestalten.

von Thorge Koehler (Universität Bremen), veröffentlicht in Iurratio Ausgabe 2/2011

Fußnoten:
1 Wendler, in: ZFS 2003, 529 (529).
2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die geschlechtsspezifische Schreibweise verzichtet.
3 Die Darstellung orientiert sich stark an Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 39 ff.
4 Vgl. Regber, Glaubhaftigkeit und Suggestibilität kindlicher Zeugenaussagen, S. 21 f.
5 Vgl. Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 39.
6 Stern, Psychologie der frühen Kindheit, 9. Auflage, S. 204 ff.
7 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 39.
8 Vgl. Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 40.
9 Schnitker, in: Kruse/Oehmichen, Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch, S. 99.
10 Undeutsch, Handbuch der Psychologie in 12 Bänden, Bd. 11, Forensische Psychologie, S. 70.
11 Vgl. Köhnken/Lempp/Schütze, Forensische Psychiatrie und Psychologie des Kindes- und Jugendalters, 2. Auflage, S. 383 f.
12 Schnitker, in: Kruse/Oehmichen , Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch, S. 100.
13 Vgl. Undeutsch, Handbuch der Psychologie in 12 Bänden, Bd. 11, Forensische Psychologie, S. 69 f.
14 Regber, Glaubwürdigkeit und Suggestibilität kindlicher Zeugenaussagen, S. 28.
15 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung, 3. Auflage, S. 58.
16 Vgl. Arntzen/Kardas/Michaelis-Arntzen, in: Psychologie der Zeugenaussage, System der Glaubhaftigkeitsmerkmale, 4. Auflage, S. 206.
17 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 50.
18 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 51.
19 Regber, Glaubwürdigkeit und Suggestibilität kindlicher Zeugenaussagen, S. 30.
20 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 52.
21 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 53.
22 Wegener, Einführung in die forensische Psychologie, S. 51.
23 Vgl. Undeutsch, Handbuch der Psychologie in 12 Bänden, Bd. 11, Forensische Psychologie, S. 71.
24 So auch Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 54.
25 Regber, Glaubwürdigkeit und Suggestibilität kindlicher Zeugenaussagen, S. 32.
26 Vgl. Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 57.
27 Schnitker, in: Kruse/Oehmichen , Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch, S. 101.
28 Differenzierter Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 58 f.
29 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 62.
30 Im Ergebnis so auch Regber, Glaubwürdigkeit und Suggestibilität kindlicher Zeugenaussagen, S. 33 f.
31 So etwa Köhnken/Lempp/Schütze, Forensische Psychiatrie und Psychologie des Kindes- und Jugendalters, 2. Auflage, S. 356 f. 32 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung, 3. Auflage, S. 47 f.
33 So auch Ell, in: ZfJ 1992, 142 (189).
34 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung, 3. Auflage, S. 50.
35 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 12 f.
36 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung, 3. Auflage, S. 51.
37 Vgl. Ell, in: ZfJ 1992, 142 (189).
38 BGH NJW 1960, 1396 (1397); Senge, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, § 52, Rn. 23.
39 Allerdings kommen gerade Taten im familiären Umfeld (insb. Dunkelfeld) regelmäßig vor; vgl. Berliner/Elliott, in: The APSAC handbook on child maltreatment, S. 54; Kley, in: Kriminalistik 2007, 455 (457).
40 Peschel-Gutzeit, in: Staudinger, BGB, § 1629, Rn. 89.
41 Vgl. Deckers, in: NJW 1999, 1365 (1367).
42 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung, 3. Auflage, S. 48.
43 Hierzu Steller/Volbert, Psychologie im Strafverfahren, S. 25 f.
44 Vgl. Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 14.
45 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung, 3. Auflage, S. 48 f.
46 Stern, Psychologie der frühen Kindheit, 9. Auflage, S. 414; Regber, Glaubhaftigkeit und Suggestibilität, S. 47.
47 Vgl. Undeutsch, Handbuch der Psychologie in 12 Bänden, Bd. 11, Forensische Psychologie, S. 70.
48 Endres/Scholz/Summa, in: Fabian/Greuel/Stadler, Psychologie der Zeugenaussage, S. 189.
49 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung, 3. Auflage, S. 53.
50 Arntzen/Michaelis, in: Psychologie der Kindervernehmung, S. 22.
51 Arntzen/Michaelis, in: Psychologie der Kindervernehmung, S. 16. 52 Endres/Scholz/Summa, in: in: Fabian/Greuel/Stadler, Psychologie der Zeugenaussage, S. 195.
53 Vgl. Schulz von Thun/Ruppel/Stratmann, Miteinander Reden, 7. Auflage, S. 33 ff.
54 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung, 3. Auflage, S. 49.
55 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 22.
56 Vgl. Deckers, in: NJW 1999, 1365 (1367 f.).
57 Kluck, FPR 1995, 90 (92).
58 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 16.
59 Kropp, in: JuS 2005, S. 686 (688); Schneider, Einführung in die Kriminologie, 3. Auflage, S. 315 f.
60 Vgl. Kipper, Schutz kindlicher Opferzeugen im Strafverfahren, S. 76.
61 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 87.
62 So etwa Hussels, in: ZRP 1995, S. 242 (243).
63 Schaaber, in: STREIT 1993, 143 (150); Meyer-Goßner, StPO, § 247, Rn. 11.
64 So auch Scheumer, Videovernehmung kindlicher Zeugen, S. 130 ff.
65 Vgl. Einschätzung Scheumer, Videovernehmung kindlicher Zeugen, S. 134.
66 Vgl. hierzu etwa Anm. von Bohnert, in: JZ, 2003, 1001 (1001 f.) zu: BVerfG JZ 2003, 999 (999 ff.).

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