von Prof. Dr. Rolf Schmidt
A. Einführung
Die Rechtfertigungsgründe nehmen einen zentralen Aspekt bei der Frage nach der Strafbarkeit einer Person ein. Das hat seinen Grund darin, dass Unrecht nur derjenige begeht, der einen Straftatbestand verwirklicht und sich dabei auf keinen anerkannten Rechtfertigungsgrund stützen kann.
Das mag am Beispiel der Notwehr (§ 32 StGB) deutlich werden: Wird jemand abends im Park überfallen und wehrt den Angriff mittels Pfeffersprays ab, ist der durch den Einsatz des Pfeffersprays verwirklichte Tatbestand der Körperverletzung (§ 223 I StGB) durch Notwehr gerechtfertigt. Der sich Verteidigende begeht also kein Unrecht, obwohl er den Tatbestand einer Straftat verwirklicht.
In der juristischen Fallbearbeitung ist also stets zunächst die Verwirklichung des Tatbestands zu prüfen, um – für den Fall, dass der Tatbestand bejaht wird – sodann der Frage nachzugehen, ob der Täter auch rechtswidrig gehandelt hat oder ob er durch Eingreifen eines Rechtfertigungsgrundes gerechtfertigt ist. Kann er sich auf einen anerkannten Rechtfertigungsgrund berufen, begeht er kein Unrecht.
B. Erfordernis eines subjektiven Rechtfertigungselement
Allein aus dem objektiven Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes folgt jedoch noch nicht die Rechtfertigung. Vielmehr fordert die heute wohl einhellige Auffassung, dass der Täter zumindest in Kenntnis der rechtfertigenden Sachlage handeln müsse (BGH NStZ 2001, 143, 144; 2001, 153; 1996, 29, 30; BayObLG NStZ-RR 1999, 9; Mitsch, JuS 2000, 848, 851; Graul, JuS 2000, L 41; LK-Rönnau/Hohn, StGB, 12. Aufl. 2006, § 32 Rn 263, 266 f.; Sch/ Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, StGB, 28. Aufl. 2010, Vorbem §§ 32 ff. Rn 13 f.; Fischer, StGB, 60. Aufl. 2013, § 32 Rn 25; Wessels/Beulke, AT, 42. Aufl. 2012, Rn 275; Joecks, StGB, 10. Aufl. 2012, Vor § 32 Rn 10; Gropp, AT, 3. Aufl. 2005, § 6 Rn 32; Rönnau, JuS 2009, 594, 595.); überwiegend wird sogar gefordert, dass der in Kenntnis der ihn rechtfertigenden Sachlage handelnde Täter auch mit dem Willen der Rechtfertigung handeln müsse.
Für dieses Erfordernis spricht der dem Strafrecht zugrunde liegende Grundsatz, dass jemand nur dann strafbar ist, wenn er auch den Vorsatz hat, den Straftatbestand zu verwirklichen (vgl. § 15 StGB). Spiegelbildlich muss daher auch jemand, dem objektiv ein Rechtfertigungsgrund zur Seite steht, auch mit dem Willen der Rechtfertigung handeln, um in den Genuss der Rechtfertigung zu kommen.
Für das Erfordernis eines Rechtfertigungswillens spricht auch die finale Formulierung „um“ in den §§ 32 II, 34 S. 1 StGB (So auch insbesondere die Rspr., vgl. nur BGH NStZ 2001, 143, 144; 2001, 153; 2000, 365; 1999, 29, Zum Streitstand insgesamt vgl. ausführlich Sch/Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, Vorbem §§ 32 ff. Rn 14 sowie R. Schmidt, AT, 11. Aufl. 2012, Rn 311 ff.), denen insoweit ein allgemeiner Rechtsgedanke entnommen werden kann.
Danach handelt also nur rechtmäßig, wer aufgrund eines Erlaubnissatzes (d.h. Rechtfertigungsgrundes) rechtens handeln will. Mithin gehören zur Notwehr subjektiv der „Verteidigungswille“, zum rechtfertigenden Notstand der „Rettungswille“, zur rechtfertigenden Einwilligung das Handeln „in Kenntnis des Rechtsgutverzichts“, zum Festnahmerecht gem. 127 StPO der Festnahmewille usw. (Vgl. Wessels/Beulke, AT, Rn 275; R. Schmidt, AT, Rn 315.) Zusätzliche Motive wie beispielsweise Eifersucht, Neid, Hass, Wut oder das Streben nach Vergeltung spielen dabei keine Rolle, sofern sie jedenfalls den Rechtfertigungswillen nicht völlig in den Hintergrund drängen. (BGH NStZ 2000, 365; BayObLG NStZ-RR 1999, 9; Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 14 Rn 95 u. § 15Rn 111; Fischer, § 32 Rn 26; R. Schmidt, AT, Rn 315)
Fehlt die subjektive Rechtfertigungskomponente, ist der Täter nicht gerechtfertigt. Die sich hier sodann aufdrängende Frage muss dann lauten, welche Konsequenzen sich für den in Unkenntnis der Rechtfertigungslage handelnden Täter ergeben bzw. wie der Täter strafbar ist.
Eine Mindermeinung unter Einschluss des BGH vertritt hierzu die Ansicht, dass der Täter wegen vollendeter rechtswidriger Tat strafbar sei, weil der tatbestandsmäßige Erfolg eingetreten sei und gerade kein Rechtfertigungsgrund greife. Für dieses Ergebnis spreche auch der Wortlaut des § 16 StGB, der sich nur auf den gesetzlichen Tatbestand beziehe. (BGHSt 2, 111, 114 f.; LK-Rönnau/Hohn, § 32 Rn 268)
Die herrschende Lehre (Sch/Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, Vorbem § 32 ff. Rn 15; Fischer, § 32 Rn 27; Wessels/Beulke, AT, Rn 279; Roxin, AT I, § 14 Rn 94; SK-Günther, vor § 32 Rn 90; Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. 1996, 31 IV 2; Stratenwerth/Kuhlen, AT, 6. Aufl. 2011, § 9 Rn 147 f.) nimmt hingegen eine Versuchsstrafbarkeit an, und zwar unter Anwendung der Versuchsregeln (§§ 22 ff. StGB).
Dieser Ansicht ist zuzustimmen, wenn man das oben Gesagte rekapituliert, wonach den Täter die Strafe wegen eines vollendeten Delikts nur dann treffen kann, wenn er sämtliche objektiven und subjektiven Strafbarkeitsvoraussetzungen erfüllt hat. Fehlt es an einer objektiv rechtswidrigen Handlung, geht der Täter jedoch davon aus, Unrecht zu verwirklichen, stellt dies gerade einen Fall eines Versuchs dar. (Schmidt, AT, Rn 318.)
Beispiel: Im Streit schlägt T den O nieder (§ 223 I StGB). Was T jedoch nicht weiß, ist, dass O gerade dabei war, ein Messer aus der Jackentasche zu ziehen, um auf T einzustechen (§§ 223 I, 224 I Nr. 2 Var. 2 StGB). In diesem Fall war T also objektiv gerechtfertigt (Notwehr, § 32 StGB), hatte aber nicht den Willen, sich zu verteidigen. Daher kann er sich im Ergebnis nicht auf Notwehr berufen. Auf dem Boden der hier vertretenen h.L. ist T wegen versuchter Körperverletzung (§§ 223 I, II, 22, 23 I, 12 II StGB) strafbar.
Denkbar ist auch der umgekehrte Fall, d.h. der Fall, in dem zwar das subjektive Rechtfertigungselement vorliegt, nicht aber die objektiv gegebene Rechtfertigungslage.
Beispiel: T und O streiten sich heftig. Als O dann in seine Jackentasche greift, um ein Zigarettenpäckchen herauszuholen, glaubt T, O wolle ein Messer ziehen, um auf T einzustechen. Um dem vermeintlichen Messerstich zuvorzukommen, schlägt T den O nieder (§ 223 I StGB).
Später stellt sich für T die wahre Sachlage heraus. In diesem Fall war T also objektiv nicht gerechtfertigt, da keine Notwehrlage bestand (O hat den T nicht angegriffen). Da T allerdings annahm, er werde mit einem Messer attackiert und dürfe Notwehr üben, stellt sich die Frage, wie dieser Umstand rechtlich zu würdigen ist.
Der BGH (Vgl. nur BGHSt 3, 105, 107; 31, 264, 286 ff.; 35, 246, 250; BGH NJW 2000, 1348, 1349; NStZ-RR 2002, 73; NJW 2004, 2458, 2460; NStZ 2004, 204, 205; NStZ-RR 2011, 238; zust. Mitsch, JuS 2000, 848, 851; vgl. auch Roxin, AT I, § 14 Rn 62 u. 68; Sch/Sch-Sternberg-Lieben, § 16 Rn 18. Zumindest unklar BGH NStZ 2011, 630 („keine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tat“).) lässt in einem solchen Fall überwiegend analog § 16 I S. 1 StGB den Vorsatz entfallen.
Demnach würde vorliegend der subjektive Tatbestand der Körperverletzung zu verneinen sein. Da T andererseits aber gerade gezielt und damit vorsätzlich den O geschlagen hat, erscheint es nicht sachgerecht, den subjektiven Tatbestand zu verneinen.
Aus diesem Grund lassen die h.L. (nur Jescheck/Weigend, AT, § 41 III 2d, IV 1d; Wessels/Beulke, AT, Rn 479; Lackner/Kühl, 27. Aufl. 2011, § 17 Rn 5 u. 9; Blei, AT, 12. Aufl. 1996, § 59 II 3; Fischer, § 16 Rn 20 ff.) (und teilweise auch der BGH) (BGH NJW 1997, 2460; NStZ 2012, 272, 273 („Ausschluss der Vorsatzschuld“).) die Verwirklichung des Tatbestands unberührt und lassen lediglich den bei der Schuld zu prüfenden Vorsatzschuldvorwurf entfallen. „Entfallen lassen“ des Vorsatzschuldvorwurfs bedeutet, dass es bei einer tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Tat bleibt, der Täter nur nicht schuldhaft handelt.
(Diese Konsequenz kann insbesondere für eine Teilnahme (§§ 26, 27 StGB) Bedeutung erlangen, denn diese setzt gerade eine rechtswidrige und vorsätzliche Haupttat voraus; auch eine ggf. recht- mäßige Notwehrhandlung des Angegriffenen bleibt möglich.)
T hat also Unrecht verwirklicht, die Tat jedoch nicht schuldhaft begangen. Er befand sich im Zustand einer Putativnotwehr, d.h. in einem sog. Erlaubnistatbestandsirrtum, der immer dann vorliegt, wenn der Täter irrig annimmt, die tatsächlichen Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes (= eines Erlaubnistatbestands) lägen vor. (Dazu BGH NJW 2000, 1348 sowie ausführlich R. Schmidt, AT, Rn 531 ff.)
C. Einzelne Rechtfertigungsgründe
Für die Rechtfertigungsgründe gilt der Grundsatz der „Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“: Was zivil- oder verwaltungsrechtlich erlaubt ist, kann strafrechtlich nicht verboten sein. Erlaubnisse und Freistellungen, aber auch Rechtfertigungsgründe aus dem Zivilrecht und dem öffentlichen Recht können daher auch im Strafrecht als Rechtfertigungsgründe fungieren. (Allgemeine Auffassung, vgl. nur BGHSt 11, 241, 244; R. Schmidt, AT, Rn 322)
Aus diesem Grund gibt es so viele Rechtfertigungsgründe, die zur Rechtfertigung eines verwirklichten Straftatbestands führen können. Im Folgenden sollen aber nur die bedeutsamsten vorgestellt werden. Insgesamt kommen insbesondere folgende Rechtfertigungsgründe in Betracht (auch Wessels/Beulke, AT, Rn 282; Sch/Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, Vorbem §§ 32 ff. Rn 28; Schmidt, AT, Rn 322.) :
- aus dem StGB § 32 (Notwehr), § 34 (rechtfertigender Not- stand), 193 (Wahrnehmung berechtigter Interessen), § 218a II und III (Schwangerschaftsabbruch),
- aus dem BGB § 227 (Notwehr), § 228 (Defensivnotstand), 229 (Recht zur Selbsthilfe), § 859 (Besitzkehr, Besitzwehr nach verbotener Eigenmacht), § 904 (Aggressivnotstand) und ggf. § 241a (Zerstörung, Beschädigung oder Ingebrauchnahme unbestellt zugeschickter Sachen(Sehr prolematisch, dazu näher Schmidt/Priebe, BT II, 11. Aufl. 2012, Rn 283a.)), ferner diejenigen aus § 562b, 581 II, 704, 1029,
- aus der StPO § 81a (Recht zur Entnahme einer Blutprobe) ( und § 127 (Festnahmerecht), (§ 81a StPO setzt allerdings eine Anordnung durch den Richter, Staatsanwalt oder einen Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft voraus. Liegt eine solche Anordnung vor, ist § 34 StGB nicht anwendbar.)
- aus dem OWiG 15 (Notwehr) und § 16 (rechtfertigender Notstand),
- aus dem BJagdG 23 (rechtfertigender Notstand),
- aus dem GVG 177 (Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung) und § 178 (Ordnungsmittel wegen Ungebühr),
- aus dem Strafvollzugsrecht die landesrechtlichen Bestimmungen über das Festnahmerecht gegenüber Entwichenen (Zur Föderalismusreform, durch die am 1.9.2006 die Gesetzgebungskompetenz für das Strafvoll- zugsrecht vom Bund (vgl. § 87 StVollzG F.) auf die Länder übergegangen ist, vgl. R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 12. Aufl. 2012, Rn 795.),
- aus dem GG 20 IV (politisches Widerstandsrecht) und
- aus dem Gewohnheitsrecht (rechtfertigende Einwilligung, rechtfertigende Pflichtenkollision; dagegen ist das Züchtigungsrecht der Eltern und bestimmter Erzieher nicht mehr anzuerkennen).
Im Folgenden soll der wohl bekannteste und für die Anfangssemester wohl wichtigste Rechtfertigungsgrund der Notwehr gem. § 32 StGB erläutert werden. (Zu den übrigen Rechtfertigungsgründen ausführlich R. Schmidt, AT, Rn 322 ff.)
D. Notwehr ( § 32 StGB, § 15 OWiG, § 227 BGB)
Unter „Notwehr“ versteht das Gesetz die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen (Die Notwehr zugunsten eines anderen wird auch als „Nothilfe“ bezeichnet.) abzuwenden (vgl. § 32 II StGB).
Dieser Rechtfertigungsgrund beruht auf der Erwägung, dass das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht. Er verbindet die individuelle Befugnis zum Selbstschutz vor widerrechtlichen Angriffen mit dem Allgemeininteresse an der Wahrung der Rechtsordnung, für deren Bestand derjenige eintritt, der zur Notwehr (oder Nothilfe) greift (Schmidt, AT, Rn 324.).
Der Prüfungsaufbau dieses Rechtfertigungsgrundes innerhalb des Delikts ist dem Grunde nach durch das Gesetz vorgezeichnet und stellt sich wie folgt dar:
I. Prüfschema
- Notwehrlage
= gegenwärtiger rechtswidriger Angriff auf ein notwehrfähiges Rechtsgut
- Notwehrhandlung
= Jede Verteidigungshandlung, die (objektiv) erforderlich und (normativ) geboten ist, um den Angriff abzuwehren
- Subjektives Rechtfertigungselement
= Der Täter muss in Kenntnis des objektiven Rechtfertigungstatbestands und mit dem Willen, sich zu verteidigen, gehandelt haben
II. Voraussetzungen im Einzelnen
1. Notwehrlage: Gegenwärtiger rechtswidriger Angriff auf ein notwehrfähiges Rechtsgut
Notwehr setzt zunächst einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff auf ein rechtlich geschütztes Interesse (= notwehrfähiges Rechts- gut) voraus (R. Schmidt, AT, Rn 325). Unter einem „Angriff “ i.S.d. § 32 StGB versteht man das willensgetragene Verhalten eines Menschen, welches ein rechtlich geschütztes Interesse zu verletzen droht oder verletzt (Vgl. BGH NJW 2003, 1955, 1956 ff.; NStZ-RR 2002, 73; Gropp, AT, § 6 Rn 68; R. Schmidt, AT, Rn 324).
Da ein Angriff also nur von einem Menschen ausgehen kann und zudem willensgetragen und rechtswidrig sein muss, unterfällt der „Angriff “ eines Tieres (etwa eines „Kampfhundes“) nicht dem § 32 StGB (in Betracht kommen aber §§ 228, 90a BGB).
Wird das Tier jedoch von einem Menschen als „Waffe“ eingesetzt (Beispiel: Hund wird vom Halter auf einen Menschen gehetzt), liegt insoweit ein Fall des § 32 StGB vor. „Angreifer“ ist dann der das Tier einsetzende Mensch (Joecks, 32 Rn 6; R. Schmidt, AT, Rn 330.).
Der Angriff muss „gegenwärtig“ sein. Mit „Gegenwärtigkeit“ ist jedoch nicht gemeint, dass eine Verteidigungshandlung nur gegen einen bereits stattfindenden Angriff möglich wäre. Anderenfalls müsste der Notwehrübende mitunter eine Verletzung seines notwehrfähigen Rechtsguts abwarten, was ihm nicht zuzumuten ist. Auch muss es zulässig sein, bspw. einen flüchtenden Dieb zu stoppen und an der weiteren Flucht zu hindern.
Ein Angriff ist nach ganz h.M. daher auch dann „gegenwärtig“, wenn er unmittelbar bevorsteht oder noch andauert (Ganz h.M., vgl. nur BGH NStZ 2006, 152, 153 f.; NJW 2003, 1955, 1956 ff.; NStZ-RR 2002, 73; Wessels/Beulke, AT, Rn 328; Kühl, AT, § 7 Rn 40; Gropp, AT, § 6 Rn 77; Sch/Sch-Perron, § 32 Rn 13 ff.; R. Schmidt, AT, Rn 334 ff.). Schließlich muss der Angriff „rechtswidrig“ sein. Nach der allgemeinen Definition ist ein Angriff rechtswidrig, wenn er im Widerspruch zur Rechtsordnung steht (Vgl. Gropp, AT, § 6 Rn 70; Joecks, § 32 Rn 10; Fischer, § 32 Rn 21; Jescheck/Weigend, AT, § 32 II 1c; Lackner/Kühl, § 32 Rn 5; NK-Herzog, § 32 Rn 34.).
Handelt also bereits der Angreifer nicht rechtswidrig bzw. kann er sich auf einen Rechtfertigungsgrund stützen (wobei es keine Rolle spielt, welchem Rechtsgebiet der Rechtfertigungsgrund angehört), fehlt es an der Rechtswidrigkeit des Angriffs i.S.d. § 32 StGB. (dazu BVerfGE 39, 274, 376; BSG JZ 2000, 96, 97; OLG Hamburg StraFo 2012, 278 ff.; AG Grevenbroich NJW 2002, 1060, 1061; Kühl, AT, 7. Aufl. 2012, § 7 Rn 60; Roxin, AT I, § 14 Rn 104 und 15 Rn 14.). Der Angegriffene kann sich dann nicht auf Notwehr berufen. Insbesondere gilt: keine Notwehr gegen Notwehr!
Beispiel: T hat einer älteren Dame die Handtasche entrissen und ist auf der Flucht. O, der das Geschehen beobachtet, entschließt sich spontan, T zu verfolgen, um ihn zu stellen. Als O gerade dabei ist, T einzuholen und niederzustrecken, greift der bislang unbeteiligte D in das Geschehen ein und schlägt O nieder, weil er glaubt, bei O handele es sich um einen Schläger, der T angreifen wolle. Hier hat D den Tatbestand des § 223 I StGB verwirklicht. Möglicherweise ist er aber wegen Nothilfe (§ 32 StGB) gerechtfertigt.
Das setzt jedoch einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff des O auf T voraus. Daran fehlt es jedoch, wenn O seinerseits wegen Notwehr gerechtfertigt war. Der eigentliche Angriff ging von T aus. Dieser hat der älteren Dame die Handtasche entrissen und damit ein notwehrfähiges Individualrechtsgut verletzt.
Diesen noch gegenwärtigen Angriff des T auf das Eigentum der älteren Dame durfte O daher abwehren. O war somit seinerseits wegen Notwehr (in Form der Nothilfe) gerechtfertigt und handelte nicht rechtswidrig. Folglich durfte D nicht im Wege der Nothilfe T zu Hilfe kommen. D handelte rechtswidrig.
Da D jedoch glaubte, Nothilfe üben zu dürfen, greift die unter B. behandelte Figur des sog. Erlaubnistatbestandsirrtums, der nach der überwiegenden Rspr. des BGH zum Ausschluss des (Tatbestands-) Vorsatzes und nach h.L. zum Ausschluss der Schuld führt.
Als notwehrfähiges Rechtsgut kommt jedes rechtlich geschützte Interesse oder Gut des Täters oder eines anderen in Betracht. Dazu zählen jedenfalls alle Individualrechtsgüter wie Leben (auch das ungeborene), Leib, Freiheit usw. Im Übrigen sind als notwehrfähig anerkannt: die Intimsphäre, die Ehre, das Recht am eigenen Bild, das bereits durch unbefugtes Fotografieren verletzt wird (dazu OLG Hamburg StraFo 2012, 278 ff.), die Nachtruhe, das Hausrecht, das Eigentum und der Besitz, das Vermögen, das Jagdrecht und das Pfandrecht.
Ob und inwieweit auch Rechtsgüter des Staates für den Einzelnen notwehrfähig sind, ist zweifelhaft. Jedenfalls ist die objektive Rechtsordnung für den Einzelnen nicht notwehrfähig. Diese zu verteidigen ist Aufgabe der Behörden (keine Selbstjustiz) (Vgl. dazu im Einzelnen Sch/Sch-Perron, § 32 Rn 6-8; NK-Herzog, § 32 Rn 18. ).
Daher dürfte ein Bürger bspw. einen „Verkehrssünder“, der lediglich gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen, aber kein Individualrechtsgut verletzt hat, nicht stoppen und an der Weiterfahrt hindern, da dies eine Nötigung (§ 240 StGB) bzw. Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) darstellte.
2. Notwehrhandlung
Nach allgemeiner Auffassung ist eine Notwehrhandlung diejenige Verteidigungshandlung, die (objektiv) erforderlich und (normativ) geboten ist, um den Angriff abzuwehren (Vgl. nur BGH NJW 2003, 1955, 1956 ff.) „Verteidigung“ ist dabei jedes Abwehrverhalten, das sich gegen die Rechtsgüter des Angreifers richtet und der Beendigung des Angriffs dient.
Allerdings muss das Abwehrverhalten auch erforderlich sein, wie sich aus § 32 II StGB ergibt. Erforderlich ist grundsätzlich jede Handlung, welche zu einer wirksamen Verteidigung beiträgt, eine möglichst sofortige Beendigung des Angriffs erwarten lässt und die endgültige Beseitigung der Gefahr am besten gewährleistet.
Eine Güterabwägung findet grundsätzlich nicht statt (er gilt der Grundsatz: „Das Recht muss dem Unrecht nicht weichen.“) (Vgl. BGH NStZ 2002, 140; NStZ 2001, 143, 144; NStZ 2002, 425 (mit Bespr. v. Heger, JA 2003, 8 ff.);RGSt 21, 168, 170; Sch/Sch-Perron, § 32 Rn 34 f.; Erb, NStZ 2004, 369, 371; R. Schmidt, AT, Rn 348.)
Dieses recht großzügige Verständnis der Erforderlichkeit lässt sich darauf zurückführen, dass letztlich der Angreifer die gefährliche Situation herbeigeführt und es in der Hand hat, die Notwehrlage durch Abbruch des Angriffs zu beenden.
Stehen dem Notwehrübenden allerdings mehrere gleich wirksame Abwehrmittel zur Verfügung, muss er dasjenige wählen, das den geringsten Schaden verursacht (Vorrang des relativ mildesten Mittels, wozu auch das Herbeirufen der Polizei gehören kann) (BGH NStZ 2006, 152, 153 f.; NJW 2003, 1955, 1956 ff.; NStZ 2002, 73 und 140; NJW 2001, 3200, 3201; NStZ 2001, 530; BGHSt 42, 97, 100.).
Daher ist auch der Einsatz von (auch unerlaubt mitgeführten) Schusswaffen oder anderen gefährlichen Werkzeugen (Messer o.Ä. (Zur Notwehr durch lebensgefährlichen Messerstich vgl. BGH JA 2013, 69; BGH NStZ 2011, 82 f.; NStZ 2009, 626 f.; StV 2006, 234 f.; NStZ 2006, 152, 153 f.; NStZ 2004, 615; NJW 2003, 1955, 1956 ff.; NStZ 2002, 73, 140 und 425. Vgl. auch Altvater, NStZ 2003, 21, 24; Heger, JA 2003, 8 ff.; BGH StV 1999, 145; NStZ-RR 1999, 40, 41; R. Schmidt, AT, Rn 348.)) äußerst problematisch.
In Ermangelung anderer, ebenso geeigneter Mittel können zwar auch sie in rechtlich nicht zu beanstandender Weise eingesetzt werden, bei einer Waffe (Schusswaffe, aber auch Messer (BGH JA 2013, 69; BGH NStZ 2004, 615; OLG Koblenz StV 2011, 622, 623) o.Ä.) muss deren Ein- satz aber grundsätzlich zunächst angedroht werden (jedenfalls dann, wenn der Angreifer selbst unbewaffnet ist oder wenn dem Verteidiger die Androhung nach der Kampflage möglich ist) und es muss – sofern dies bei einer Schusswaffe nicht ausreicht – nach Möglichkeit noch ein Warnschuss abgegeben werden (Dieser darf aber entfallen, wenn der Verteidiger nur eine Patrone zur Verfügung hat, vgl. BGH NStZ 2001, 591; Altvater, NStZ 2003, 21, 24; 2002, 20, 25.).
Wenn schließlich der Angriff nicht anders als durch Schusswaffeneinsatz abgewehrt werden kann, muss der Notwehrübende zumindest versuchen, den Angreifer nicht lebensgefährlich zu verletzen (etwa durch gezielten Schuss in die Beine).(Zum Schusswaffeneinsatz vgl. BGH NStZ 2001, 143, 144; NStZ 2001, 591; NJW 2001, 3200 ff.; StV 1999, 143. Vgl. auch BGH NJW 2000, 1348, 1349 und BayObLG NStZ-RR 1999, 9, 10.)
Ist auch dies nicht möglich (etwa weil der Angreifer zu dicht am Verteidiger steht oder der Verteidiger aufgrund seiner körperlichen Konstitution keine andere Abwehrchance hat), kann auch ein tödlich wirkender Schuss (etwa in die Brust) erforderlich sein (Vgl. BGH NStZ 2001, 143, 144; NJW 2001, 3200, 3201 f.).
Obwohl das Notwehrrecht grundsätzlich keiner Güterabwägung unterliegt, muss dem Verteidiger das „schneidige“ Notwehrrecht dennoch versagt werden, wenn er sich rechtsmissbräuchlich verhält – sozialethische Schranke des Notwehrrechts.
Als gesetzliche Grundlage für diese Einschränkung zieht die h.M. (Vgl. BGH NStZ 2002, 425 (mit Bespr. v. Heger, JA 2003, 8 ff.); BGHSt 39, 374, 377; BSGE 84, 54, 56 ff.; Fischer, § 32 Rn 36; Lackner/Kühl, § 32 Rn 13 ff.; Roxin, AT I, § 15 Rn 56; Joecks, § 32 Rn 18. Vgl. aber BGH NJW 2003, 1955, 1956 ff., der zwischen Gebotenheit der Verteidigungshandlung und Einschränkung des Notwehrrechts unterscheidet, dann aber bei der Prüfung der Einschränkung des Notwehrrechts Kriterien der Gebotenheit prüft) den Begriff der Gebotenheit in § 32 I StGB heran.
Damit sind Fälle angesprochen, in denen es offensichtlich unbillig wäre, wenn sich der „Verteidiger“ auf Notwehr berufen könnte, etwa, wenn es um „Bagatellangriffe“ (Vgl. dazu Sch/Sch-Perron, § 32 Rn 49.) geht oder um Angriffe von Kindern oder Volltrunkenen (Vgl. dazu BSGE 84, 54 ff.; BayObLG NStZ-RR 1999, 9 f.; Wessels/Beulke, AT, Rn 344; Gropp, AT, § 6 Rn 85; SK-Günther, § 32 Rn 119; NK-Herzog, § 32 Rn 101 f.; Sch/Sch-Perron, § 32 Rn 52; Fischer, § 32 Rn 37.).
Hier ist es dem „Verteidiger“ grundsätzlich zumutbar, dem Angriff auszuweichen oder sich ihm durch Flucht zu entziehen. Erst recht ist dem „Verteidiger“ das Notwehrrecht zu versagen, wenn er die Notwehrlage selbst herbeigeführt hat, um den Angreifer unter dem Deckmantel der Notwehr verletzen zu können. Wer sich rechtsmissbräuchlich in Bezug auf das Notwehrrecht verhält, kann sich nicht darauf berufen (Vgl. dazu im Einzelnen R. Schmidt, AT, Rn 353 ff.).
3. Verteidigungswille
Wie bereits unter B. erörtert, genügt es nicht, wenn dem „Verteidiger“ objektiv das Notwehrrecht zusteht. Er muss den Angriff auch in Kenntnis des objektiven Rechtfertigungstatbestands und mit dem Willen, sich zu verteidigen, abwehren.
Das ergibt sich ohne weiteres aus der gesetzlichen Formulierung in § 32 II StGB („um … abzuwenden“). Sofern der Täter irrtümlich von dem Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen einer Notwehr ausgeht, unterliegt er einem Erlaubnistatbestandsirrtum, der nach dem BGH überwiegend analog § 16 I S. 1 StGB zum Vorsatzausschluss und nach der hier vertretenen h.L. (der sich teilweise auch der BGH anschließt) zum Ausschluss des Vorsatzschuldvorwurfs führt (s.o.).
E. Zusammenfassung
Um eine rechtswidrige Tat (i.S.v. § 11 I Nr. 5 StGB) handelt es sich, wenn das Verhalten einer Person den Tatbestand einer Strafnorm verwirklicht und nicht von einem Erlaubnissatz (Rechtfertigungsgrund) gedeckt ist. Formelhaft lässt sich sagen: Straftatbestand und Rechtswidrigkeit = rechtswidrige Tat („Strafunrecht“).
Der Unrechtstatbestand ist daher ausgeschlossen, wenn die objektiven und subjektiven Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes wie etwa Notwehr vorliegen. Der Täter ist nicht strafbar; Anstiftung und Beihilfe gem. §§ 26, 27 StGB scheiden ebenfalls aus, da diese gerade eine vorsätzliche und rechtswidrige Tat voraussetzen.