EU-Mitgliedsstaat darf eigene Staatsangehörige stärker vor Auslieferung schützen als EU-Ausländer, die sich in seinem Hoheitsgebiet aufhalten
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat am 06.09.2016 entschieden, dass ein Mitgliedsstaat nicht alle Unionsbürger, die sich ins einem Hoheitsgebiet aufhalten, gleichermaßen schützen muss.
Jedoch muss er vor einer etwaigen Auslieferung Kontakt zum Herkunftsstaat des EU-Ausländers aufnehmen und diesem die Gelegenheit gewähren, eine Übergabe zu Verfolgungszwecken zu beantragen (Az: C-182/15 BeckRS 2016, 82172).
Der Fall
Es ging um den Fall eines estnischen Staatsbürgers, der von Interpol zur Fahndung ausgeschrieben war. Im wurde versuchtes bandenmäßiges Handeln mit einer großen Menge von Betäubungsmitteln vorgeworfen. Als dieser letztlich 2014 in Lettland festgenommen wurde, stellte Russland einen Auslieferungsantrag. Die ihm zur Last gelegte Straftat wird dort mit einer Gefängnisstrafe von acht bis 20 Jahren geahndet.
Lettlands Generalstaatsanwaltschaft genehmigte die Auslieferung des Esten. Der Betroffene wehrte sich gegen diese Entscheidung. Er berief sich auf ein Übereinkommen zwischen den baltischen Staaten zur Rechtshilfe und Rechtsbeziehungen und zog hieraus, dass er die gleichen Recht wie ein lettischer Staatsangehöriger habe.
Er verlangte die Aufhebung der getroffenen Entscheidung, schließlich verbiete das lettische Recht die Auslieferung eigener Staatsbürger grundsätzlich und verbietet eine Auslieferung mit Russland im Speziellen. Er verlangt deswegen, in Lettland vor einer Auslieferung geschützt zu sein.
Die Vorlage durch den obersten Gerichtshof Lettlands
Hiermit musste sich der Oberste Gerichtshof Lettlands auseinandersetzen. Es konstatierte hier, dass es weder im lettischen Recht noch in irgendeinem Abkommen eine Regelung darüber gebe, die die Auslieferung eines estnischen Staatsbürger nach Russland verbiete.
Der Schutz vor der Auslieferung sei nur für lettische Staatsbürger vorgesehen. Es bot sich aber die Möglichkeit, dass der fehlende Schutz von Unionsbürgern hier ihrem Recht zuwiderliefe, äquivalenten Schutz wie Inländer zu erhalten.
Das Gericht fragte deswegen beim Gerichtshof der Europäischen Union an. Es möchte die Frage geklärt wissen, ob bei der Anwendung eines zwischen Mitgliedsstaat und Drittstaat (hier Russland) geschlossenen Auslieferungsabkommen die Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedsstaates im Hinblick auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit und das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht der Unionsbürger in den Genuss der Vorschrift kommen müssen, die eine Auslieferung der eigenen Staatsangehörigen verbietet.
Außerdem fragt er an, ob Lettland (beziehungsweise ein durch einen Drittstaat ersuchter Staat) zu prüfen habe, ob eine derartige Auslieferung nicht die von der Grundrechtscharta der EU geschützten Rechte verletze.
Entscheidung des Europäischen Gerichtshof
Fest steht für den Gerichtshof, dass der Este von seinem Recht auf Freizügigkeit in der EU Gebrauch gemacht hat. Indem er sich nach Lettland begab, falle seine Situation in den Anwendungsbereich der Verträge. Anzuwenden ist deswegen auch der Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Es wurden in diesem Kontext die Auslieferungsabkommen bewertet.
Diese sorgen für eine Ungleichbehandlung in Bezug auf eine etwaige Auslieferung, welche davon abhängig gemacht wird, ob der Betroffene Staatsangehöriger des Mitgliedsstaates ist, in welchem er sich befindet.
Der Gerichtshof konstatiert deswegen, sei eine Beschränkung der Freizügigkeit gegeben. Auf der Ebene der Rechtfertigung wir nun geprüft, ob diese Beschränkung auf objektiven Erwägungen beruht und zu einem legitimerweise verfolgten Zweck in einem angemessenen Verhältnis steht. Ziel ist es, der Gefahr entgegenzuwirken, dass straffällig gewordene Personen straflos bleiben. Dieses ist unionsrechtlich als legitim zu bewerten.
Die Auslieferung soll die strafrechtliche Verfolgung einer Person gewährleisten, die sich in einem anderen Hoheitsgebiet aufhält als dem, in dem die mutmaßliche Straftat durch sie begangen wurde. Wenn es sich bei dem mutmaßlichen Straftäter um jemanden handelt, der die Staatsangehörigkeit des Mitgliedsstaates besitzt, kann dieser ihn gegebenenfalls wegen außerhalb seines Hoheitsgebietes begangenen schweren Straftaten verfolgen.
Das ist in der Regel aber nicht möglich, wenn Täter und Opfer nicht dieser Staatsangehörigkeit sind. Hier fehlt es schlichtweg an der Zuständigkeit. Vor diesem Hintergrund besagt der Gerichtshof, dass nationale Vorschriften, die es ermöglichen, einem Auslieferungsantrag zum Zweck der Verfolgung und Aburteilung in einem Drittstaat, in welchem die Straftat begangen wurde, stattzugeben, zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet sind.
Es gibt keine Unionsrechtsvorschriften in Bezug auf die Auslieferung zwischen den Mitgliedsstaaten und einem Drittstaat. Deswegen sei es gerade wichtig, sämtliche Mechanismen der Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe in Gang zu setzen, um auf der einen Seite die Gefahr der Straflosigkeit zu bekämpfen und auf der anderen Seite die Unionsbürger vor Maßnahmen zu schützen, die ihr Recht auf Freizügigkeit beeinträchtigen könnten.
Deswegen sei es wichtig, dass dem Mitgliedsstaat aus dem der potentielle Straftäter kommt, der Vorzug gegeben wird, sodass dieser nach seinem nationalen Recht die Person wegen im Ausland begangener Straftaten verfolgen kann. Es muss ein Informationsaustausch mit dem Mitgliedsstaat stattfinden, sodass dieser die Gelegenheit hat, einem Europäischen Haftbefehl zu erlassen. Dies stellt den optimalen Mittelweg zwischen der Wahrung des Rechts auf Freizügigkeit und dem Entgegenwirken gegen die Gefahr der Straflosigkeit, dar.
Klarstellend gibt der Gerichtshof weiterhin an, dass niemand in einen Staat abgeschoben, ausgewiesen oder ausgeliefert werden dürfe, der dort Gefahr läuft, zu Todesstrafe, Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe verurteilt zu werden.
Hieraus lässt sich eine Verpflichtung der Behörde ziehen, dass diese beim Vorliegen etwaiger Anhaltspunkte in diese Richtung, die vorliegende Gefahr bei der Prüfung des Auslieferungsantrages miteinzubeziehen hat.
Gestützt werden muss sich hierbei auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben, die sich unter anderem aus Entscheidungen internationaler Gerichte, Gerichte des Drittstaats oder aus anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder dem System der Vereinten Nationen.